: Absurde Wachträume
Jean Tardieu mischt die Worte wie Farben und erklärt einem sogar noch das ABC des Lebens
Absurdes Theater in Berlin. Jean Tardieu in Berlin. „Das Abc des Lebens“ in Berlin. Das Theaterforum Kreuzberg in der Eisenbahnstraße erweist Jean Tardieu die Ehre. Der 1995 verstorbene französische Autor begriff seine Schreibweise stets als Mischform aus diversen Künsten. Die schriftstellerische Laufbahn Tardieus begann im Paris der 1920er-Jahre. Dort geriet er in Kontakt mit dem Surrealismus. Im Jahre 1947 verdingte er sich beim französischen Rundfunk. Seine Kunst sei jenseits der Sprache, betonte er immer wieder. Er liebte die Wörter wegen ihres Klanges, nicht aufgrund ihrer Bedeutung. Ob Übersetzungen seiner Werke überhaupt im Sinne des Künstlers sind, bleibt wohl offen. „Das Abc des Lebens“ ist das umfangreichste von Tardieus Kammerstücken. Der Aufbau ist an die Form einer Sonate angelehnt. Fast scheint es so, als kehre der moderne Autor zurück – zu den antiken Anfängen des Theaters. Denn neben der Musikalität nutzt Tardieu wie Sophokles die Wirkung eines Sprechchors. Regie führt Anemone Poland, das Ensemble der Schauspieler ist multinational besetzt. Der Inhalt des Stückes ist schnell erzählt: Jean hat einen arbeitsfreien Tag. In einer Art Wachtraum erlebt er Geschichten von Menschen aus seiner Umgebung. Der Protagonist Jean ist dabei auf der Suche nach Freiheit im Kontrast zur Arbeitswelt, zur Masse. Kommentiert wird diese Suche von Frau und Herrn Wort sowie vorüberziehenden Passanten. Deren Bandbreite reicht vom Arbeiter bis zum Chef, vom Computerfreak bis zur Liebenden. Parallelen zu den Größen des absurden Theaters Beckett und Ionesco drängen sich bei Tardieu zwangsläufig auf. Alle drei verfolgen nicht primär eine dramatische Entwicklung. Alle drei reflektieren eine Situation in all ihren Facetten. Alle drei bieten Denkanstöße. CHB
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