vorlauf: Verbrecher in Weiß
„Hitlers Eliten: Ärzte: Medizin ohne Gewissen“,
21 Uhr ARD
Manche Geschichten fokussieren das Gewohnte als Drama. Es sind Episoden, in denen ein Zustand, den alle für normal zu halten entschlossen waren, plötzlich als Skandal erscheint. So eine Geschichte ist die Biographie des SS-Mannes Werner Heyde, Professor für Neurologie und einer der wesentlichen Akteure der NS-Euthanasie: des geplanten, ordnungsgemäß ausgeführten Massenmordes an Menschen, die von NS-Ärzten für „rassisch minderwertig“ oder „unwertes Leben“ erklärt wurden. Nach 1945 arbeitete Heyde unter neuem Namen als psychiatrischer Gutachter in Flensburg – als Dokotr Fritz Sawade. Fast alle, die gesamte gesellschaftliche Elite wusste, wer Sawade wirklich war – niemand störte es. Er galt als erfolgreicher Arzt, der es zu Reihenhaus und Borgward brachte. In den 50ern schrieb Sawade Gutachten über Entschädigungen von Opfern der NS-Euthanasie – von seinen Opfern. Jene, die von den Nazis ausgesondert und gequält worden waren, mussten sich nun von ihren Peinigern bescheinigen lassen, dass ihnen Unrecht geschehen war. Heyde flog nur durch Zufall auf.
Eine typische Karriere: Nach dem Ärzteprozess der Alliierten war schnell wieder alles normal. Otmar von Verschuer, Vordenker der Rassentheorie, der sich „Menschenmaterial“ aus Auschwitz von Mengele schicken ließ, galt 1946 als Mitläufer und, gegen eine Strafe von 600 Reichsmark, als entnazifiziert. In der Bundesrepublik war er führender Wissenschaftler. Keine Aufarbeitung nirgends – das ist das Resümee von Gerolf Karwaths Feature. Ärzte wurden gebraucht, und sie passten in die autoritätssüchtigen 50er-Jahre. Was sich nicht ins Bild fügte, musste verdrängt werden, weil es das eigene Selbstbild radikal gefährdete. Was Mediziner im NS-Staat getan hatten, war noch schlimmer als das, was Unternehmer und Journalisten taten. Die Ärzte, die schweigend die „Euthanasie“-Programme exekutierten, die in Menschenexperimenten mit kaltem Blick den Todeskampf ihrer mit Wundbrand und Fleckfieber infizierten Opfer protokollierten, waren nicht nur Verbrecher. Sie waren das radikale Dementi des ärztlichen Ethos: verletzen, töten, quälen statt heilen. STEFAN REINECKE
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