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Nicht die Auto-Stadt umbauen

Hamburg ist die Hauptstadt der Kinderunfälle im Verkehr. Schuld sind meist die Erwachsenen. Die Konsequenz von Polizei und Innenbehörde: Kinder sollen noch besser an Autos gewöhnt werden. Auch Anschnallpflicht soll schärfer kontrolliert werden

von KAIJA KUTTER

„Jedes Kind, das verunglückt, ist ein Kind zuviel“, sagte Innenbehörden-Staatsrat Walter Wellinghausen (SPD) gestern bei der Vorstellung der Verkehrsunfallzahlen für 2001. Schon seit Mitte der Woche ist bekannt, dass Hamburg im Bundesvergleich hinter Brandenburg an der Spitze steht. Rund 440 pro 100.000 Kinder verunglückten im Verkehr. Der Bundesschnitt liegt bei 335, in Berlin bei 336.

Insgesamt verungückten im Vorjahr 1020 Kinder in der Hansestadt, davon je ein Drittel als Fußgänger, als Radfahrer und als Mitfahrer im Auto, berichtete Polizeidirektor Kuno Lehmann. In 40 Prozent der Fälle hatten Kinder, in 60 Prozent jedoch Erwachsene den Unfall verursacht.

Beim Thema Kinderunfälle müsste der Rechts-Senat eigentlich ganz leisetreten. Hatte er doch mit seiner Politik von Poller- und Blitzanlagen-Abbau, Tempo 60 auf allen Durchfahrtstraßen und zeitlicher Reduzierung der Tempo-30-Zonen vor Schulen signalisiert, dass schnelles Autofahren mehr zählt als die Sicherheitsbedürfnisse von Fußgängern und Kindern. Wellinghausen reagierte unwirsch auf diesen Vorhalt: „Es war nicht unser Motto zu sagen: freie Fahrt für freie Bürger.“ Die Innenbehörde habe die Verkehrsüberwachung nur verlagert, sodass heute 80 Prozent der Überwachungen an unfallträchtigen Orten stattfänden, wo häufig Personen zu Schaden kämen.

Doch die Vorschläge, die Innensenator Ronald Schills rechte Hand und sein Stab als Konsequenz aus den Unfallzahlen ableiten, deuten auf ungebrochenes Autofahrerlobbyisten-Gedankengut hin: Eltern und Kinder müssen sich anpassen, nicht der Autoverkehr. Obwohl dieser laut Lehmann zwei der drei Hauptunfallursachen ausmacht: „Fehler beim Abbiegen, Fußgänger, die nicht an Übergängen warten und nicht angepasste Geschwindigkeit in engen Wohnstraßen.“

Leider, so Wellinghausen in einem dramatischen Appell, verunglücke ein „großer Teil der Kinder“, weil die „Sicherheitsrückhaltesysteme“ nicht oder nicht richtig angelegt werden. ADAC-Experte Carsten Willms fügte hinzu, dass gerade die über Sechsjährigen von ihren Eltern im Auto „gar nicht oder schlecht“ gesichert würden. Eine Aufklärungskampagne und „verstärkte Repression“ durch Verhängung von Ordnungsgeldern zwischen 30 und 50 Euro soll hier Abhilfe schaffen. „Eltern müssen verstärkt dafür sensibiliert werden, dass man Kinder schützen muss“, sagte auch der Leiter der Landesverkehrswacht, Hans-Jürgen Vogt. Sie stellten ihre Eigenverantwortung erst an siebte Stelle.

Die Sicherheitsfrage der Kindersitze – es gibt hier ein ausgeklügeltes System mit Sitzschalen und Gurten je nach Alter des Kindes – macht jedoch nur einen Bruchteil des Problems aus. Ein Viertel jenes Drittels, das im Auto verunglückte, so Lehmann, war nicht korrekt angeschnallt. Die Anschnallpflicht berührt also gerade mal acht Prozent der Unfälle, die dadurch auch nicht ausgelöst, sondern verschlimmert wurden. Wellinghausen zur Dimension: „Es ist doch schon viel, wenn wir 50 Kinder retten können. Sie können doch nicht die Stadt umbauen.“

Weil das nicht denkbar sei und sich die meisten Unfälle – vier von fünf – in der Freizeit ereignen, sollen Hamburgs Verkehrslehrer ab sofort auch am Nachmittag „ihre Klientel zur Überwachung im Freizeitbereich aufsuchen und ansprechen“, sprich mit spielenden Kindern das autogerechte Verhalten trainieren. Die Zahl der Verkehrslehrer wird dafür von 56 auf 66 aufgestockt. Auf dem Schulweg ereignet sich dagegen nur jeder fünfte Unfall. Der sei, so Lehmann, für die Kinder eine gut beherrschte „Standardsituation“.

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