Der rastlose Rasendoktor

In Riem findet morgen mit dem Großen Dallmayr-Preis Münchens wichtigstes Pferderennen der Saison statt. Dank Mustafa Türk bietet die Galopprennbahn das „beste Geläuf Deutschlands“

aus München CLAUDIO CATUOGNO

Früh morgens ist es hier am schönsten. Alles wie hingemalt, die Pferdewaage, die Kassenhäuschen, die leeren Tribünen. Nur der Springbrunnen des nahen Golfplatzes plätschert, und ein paar Fahnenmasten klappern im Wind. Fast schon kitschig ist es hier jetzt, doch das ist nicht der Grund, warum Mustafa Türk schon so früh über die Münchner Galopprennbahn stapft. Er muss daran denken, was es heute wieder alles zu tun gibt. Und dann muss er auch schon ganz dringend den Rasenmäher anwerfen, die Stille vertreiben. Türk hat nichts gegen die Stille, er hat nur nicht das Gefühl, sie sich leisten zu können. Nicht jetzt. Eigentlich nie.

Morgen findet in München-Riem der Große Dallmayr-Preis statt, das wichtigste Rennen der Saison, dotiert mit 155.000 Euro. Im Vorfeld sind da viele mit vielem beschäftigt: die Rennleitung mit dem Starterfeld, die Sponsoren mit dem Catering und den VIP-Bereichen. Und Türk mit dem Rasen. Der 53-jährige Rennbahnverwalter ist auf der Riemer Strecke, so heißt es, „der Schöpfer des besten Geläufs in ganz Deutschland“.

Dass er das beste Geläuf macht – das sagen alle. Kurt Zwingmann, der Geschäftsführer des Rennvereins, sagt es „mit aller Bescheidenheit“. Jockeys aus aller Welt sagen es. Und Championtrainer Wolfgang Figge sagt sogar, das sei noch heillos untertrieben. Türk mache sogar „das mit riesigem Abstand allerbeste Geläuf – ganz und gar nicht vergleichbar mit allen anderen deutschen Rennbahnen“. Wie also macht er das? Und was ist das, ein besonders gutes Geläuf?

Die Sonne scheint, als Türk beschließt, nach Feierabend den Rasen fertig zu mähen. „Es könnte Regen geben“, sagt er. Gut, es sieht nicht nach Regen aus, und es ist auch kein Regen vorhergesagt, aber sicher ist sicher – „ich habe keine Angst vor der Arbeit“. Solche Sätze sagt er öfter, wenn man mit ihm über die Anlage läuft oder in seiner Scheune herumstöbert. Seit 1978 arbeitet er hier. Seine Frau schimpfe immer, er sei mit der Rennbahn verheiratet. Feierabend sei für ihn ein Fremdwort. Dinge eben, die man gerne hervorkramt, wenn es darum geht, einen Workaholic zu beschreiben, einen Getriebenen. Vielleicht glaubt er, dass man das erwartet, sonst würde man ja keinen Artikel über ihn schreiben.

Man muss deshalb auch andere über ihn reden lassen. Den Trainer Hermann-Josef Koll zum Beispiel, der gerade aus Baden-Baden kommt. Zweimal im Jahr finden dort große Meetings statt, in Riem dagegen zerpflügen manchmal alle zwei Wochen die Pferdehufe das Geläuf. „Trotzdem ist der Rasen hier besser“, sagt Koll, „es ist mir ein Rätsel, ich bewundere das sehr.“ Da bekommt Herr Türk glänzende Augen. Stolz? – „Ein bisschen!“

Der Riemer Rasen also: Dicht ist er, kräftig und frisch. Stünde da ein Schild mit der Aufschrift „Betreten verboten“ – niemand würde sich wundern. Es gibt fast keine Löcher oder Unebenheiten, die ein Pferd zum Stolpern bringen könnten, der Boden ist hart und nicht zu tief. Dabei sind hier erst am 26. Juli fast 100 Pferde durchgaloppiert und haben alles aufgewühlt. Doch noch am gleichen Abend ging Türks Rasen-Regenerations-Programm los: erst stampfen, dann walzen, und schließlich dort, wo es ganz besonders schlimm war, neu aussähen. Alles von Hand, die ganzen 1.830 Meter. Und außerdem: „Ab und zu lüften!“ Es ist wie seine eigene kleine Wissenschaft. Rasenmedizin. Und Mustafa Türk ist der Rasendoktor, der für jedes Wehwehchen eine Diagnose stellt und anschließend operiert.

Vielleicht gibt es ja solche Menschen zu selten. Menschen, die ihre Aufgabe so ernst nehmen, dass sie ein Teil ihres Wesens wird. Bei Türk ist das bestimmt so, sonst würde er sich jetzt noch nicht mit dem Ruhestand beschäftigen. Tut er aber, und hofft, dass sein Sohn die Stelle eines Tages übernimmt. Dann könnte er, der Vater, weiter mithelfen, weiter Tipps geben – und weiter in dem weißen Haus an der Rennbahn wohnen. „Wie soll ich mir denn sonst die Zeit vertreiben?“ Eines kommt da nämlich nicht in Frage: Reiten. Noch nie ist Mustafa Türk auf einem Pferd gesessen. „Keine Zeit“, sagt er, und das klingt ehrlich und gar nicht eitel. Bestimmt hätte er es einmal einrichten können. Aber es ist wie mit der Stille: Er hatte einfach nie das Gefühl, sich das leisten zu können.