■ Aussitzen und Ableugnen ist widerlich
: Was hier passiert, ist eine Banalität

betr.: „Der sentimentale Sozialist“ (Gregor Gysi) von Jens König, taz vom 2. 8. 02

PolitikerInnen sind Menschen. Menschen machen Fehler. Also machen PolitikerInnen Fehler. So weit gebongt? O.K.

Und was machen wir, wenn PolitikerInnen Fehler machen und es kommt raus? Wir prügeln auf sie ein. Egal ob sie alles ableugnen und aussitzen und den verleumdeten Ehrenmann spielen (Kohl et al.), zugeben, bedauern und trotzdem bleiben (Özdemir, der Tragödie 1. Teil) oder ob sie zugeben, bedauern und zurücktreten (Özdemir, der Tragödie 2. Teil und Gysi). Kann mir mal jemand sagen, was die armen Leute machen sollen? Und was das Ganze überhaupt soll? Diese Publikumsreaktion macht nur Sinn, wenn es uns um das Prügeln um des Prügelns willen geht. Wenn wir hingegen bestimmte Verhaltensweisen anderen vorziehen und daher fördern wollen (und ich bin der Ansicht, „alles ableugnen und aussitzen“ ist so konkurrenzlos widerlich, dass sich jeder Vergleich mit den anderen Möglichkeiten von vornherein verbietet), dann ist es wenig hilfreich, z. B. Gysi anlässlich seines Rücktritts vorzuwerfen, er sei selbstverliebt und moralisierend. (Was war dann Aussitzer Kohl? Altruistisch und pragmatisch? Na herzlichen Dank.)

Offensichtlich erlebt(e) Gregor Gysi an sich selbst, was eigentlich ein Gemeinplatz ist: dass Politik den Charakter verdirbt. (Oder glaubt jemand ernsthaft, dass mehr als zehn Prozent der Bundestagsabgeordneten ihre Bonusmeilen nicht privat genutzt haben?) Was da passiert ist, ist eine Banalität. Aber die Chance, die sich hier bieten könnte, ist alles andere als banal: Gysi ist intelligent genug und besitzt hopefully genug Selbstwahrnehmung, um möglicherweise in der Lage zu sein, uns mitzuteilen, wie sich eine solche Metamorphose zum/r „durchschnittlich korrupten PolitikerIn“ von innen anfühlt. Und vielleicht ergäbe sich aus dieser Erkenntnis ein Ansatz für eine Veränderungsmöglichkeit. (Und zwar eine, die mehr Erfolg verspricht als dieser offensichtlich schwachsinnige Expertenvorschlag – die Diäten zu erhöhen –, der mit beeindruckender Präzision genau der Mentalität entstammt, die er bekämpfen soll.) […] ANJETTA CHRISTNER, Berlin

betr.: „Macht, Moral und die Linke“, taz vom 2. 8. 01

Stefan Reinecke hat einen sehr ärgerlichen Kommentar geschrieben, der nicht unbeantwortet bleiben kann. Von einem ungelösten Moralproblem der Linken ist da die Rede. Der geneigte taz-Leser mag zu diesem Thema einen Diskurs über die Diskrepanz zwischen linken Moralansprüchen und real ausgeübter Politik erwarten. Stattdessen tischt uns Herr Reinecke eine abenteuerliche Geschichte von einem „tradierten linken Moralkodex“ auf, der nun in der Auflösung befindlich sei. Die von Reinecke vorgebrachte These einer rücksichtslosen Kollektivmoral, die er irgendwo in der Vergangenheit linker Politik verortet – und deren Verlust Reinecke offenbar bedauert (!) –, müsste erst einmal sorgfältig diskutiert werden. […]

Dass es (noch) Vertreter der Linken gibt, die angesichts ihrer Verfehlungen zurücktreten und nicht um des bloßen Machterhalts willen im Amt bleiben, das, Herr Reinecke, finde ich erfreulich. Nun: Würde Roland Koch wegen eines Kredits, wegen Bonusmeilen oder eines Buchhonorars zurücktreten? Wir alle kennen die Antwort. Aber sollte er es? Verdammt noch mal, ja! Auch wenn jetzt die vergleichsweise lächerliche Bonusmeilen-Affäre für die rot-grüne Regierung zum Stolperstein werden sollte, so steht eines fest: Was dieser Republik fehlt, ist nicht eine Linke mit dem festen Willen zur Macht. Es ist vielmehr ein verantwortungsbewusster Umgang mit Regierungsgewalt. Dieser könnte übrigens auch bedeuten, dass eine Regierung, die „(gerade) keine zündende Idee mehr hat“, zurücktritt. Eine Volksvertretung, die nur der Macht wegen regiert, wird dieser Bezeichnung nicht gerecht, unabhängig davon, welchem politischen Spektrum sie angehört.

ANDREAS SCHIEL, Bielefeld

In Bezug auf die übereiligen Rücktritte von Cem Özdemir und Gregor Gysi stellt Herr Reinecke ganz berechtigt die Frage, ob „die linke Rücktrittsfreudigkeit ein Zeichen für mangelnden Machtwillen ist“.

Die deutsche Linke könnte in diesem Fall vom früheren amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und seinen Wählern lernen. Clintons politische Feinde haben trotz größter jahrelanger Anstrengungen es nie geschafft, die Mehrheit der Amerikaner dazu zu bringen, Clintons private moralische Pannen als politisch relevant anzusehen. Der medial aufgeputschte Monika-Lewinsky-Skandal und das darauf folgende Amtsenthebungsverfahren hat die Mehrheit der Amerikaner nicht von ihrer Meinung abringen können, dass die Moral der Macht in den Zwecken und Mitteln ihrer Anwendung liegt und nicht in dem naiven Versuch besteht, sich für die Macht durch ein moralisch einwandfreies Leben irgendwie zu qualifizieren. Deutsche Politiker könnten vermutlich eine nicht minder anspruchsvolle Einschätzung des „Bonusmeilen-Skandals“ von ihren Wählern erwarten. Wo Clinton mit einer höheren Beliebtheitsskala als jeder amerikanische Präsident vor ihm aus dem Amt geschieden ist, müssen Özdemir und Gysi dafür bezahlen, dass sie ihren Wählern zu wenig zugetraut haben.

MARK BROWN, Bielefeld