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Surrealer Saisonstart

Im Traum wartet das große Spiel auf den Stoffpferdreiter mit dem Hörfehler

Kürzlich hatte ich einen Traum: Ich sitze auf einem riesigen, mit Stroh ausgestopften Stoffpferd, das mit langen Tauen an den Dachbalken einer Scheune befestigt ist und sich im Kreis dreht. Unter dem Dach sitzen meine Eltern und rufen, während ich mich auf dem hin und her schwingenden Pferd kaum halten kann, ständig: „Erkläre uns den Imperialismus!“ Tatsächlich habe ich dann versucht, den Imperialismus zu erklären. Aber in Wirklichkeit beschrieb ich, ohne mir meines Fehlers bewusst zu sein, den Impressionismus.

Ich deute diesen Traum so: 1. Wir waren mal sehr arm, wir konnten uns nur Stoffpferde leisten. 2. Niemand interessiert sich für meinen Hörfehler. 3. Auch wenn man die Zügel in der Hand hält, kann man noch an der langen Leine geführt werden. 4. Ich sollte aufhören, so viel Kafka zu lesen. 5. Der Stall gehörte uns auch nicht. Wir wohnten da zur Miete. 6. Wir waren wirklich mal sehr arm. 7. Ich weiß bis heute nicht, was der Unterschied zwischen Imperialismus und Impressionismus ist.

In Wirklichkeit habe ich meine Eltern nie verstanden. Lange Zeit glaubte ich deshalb, sie wären Spanier – oder zwei russische Zahnärzte, dies besonders, als sie mich zwangen, eine Zahnspange zu tragen und Balalaika zu lernen. Zuweilen hielt ich sie auch für taubstumm, in Wirklichkeit befanden sie sich aber die größte Zeit auf Reisen, in der sie von einem spanischen Zahnarzt, führenden Vertretern der russischen Zahnseideindustrie und Fernandez Schiwago, „Europas Gebiss des Monats September“ und gleichzeitig Herausgeber der Standardwerke „Spanien mit den Augen eines Russen“ und „Die Welt erklärt mit Hilfe von Leserbriefen spanischer Patienten russischer Zahnarztpraxen“, begleitet wurden. Außerdem führten sie eine große Kiste Gouda mit sich, weshalb ich inzwischen glaube, dass meine Eltern gar keine Spanier, sondern Niederländer sind. Damit bin ich wohl der Einzige, der kein Niederländer ist, obwohl seine Eltern diesem Volk angehören. Aber, vielleicht sind mein Vater und meine Mutter auch keine Niederländer – das würde vieles erklären.

Während der Reisen wohnte ich hinter der Tapete beim Kamin und sorgte für das Haus. Von meinem Platz aus wirkte das Haus so groß, dass ich das Gefühl hatte, es nie in Ordnung halten zu können. Dies war besonders deshalb ärgerlich, weil am Samstag Saisonstart war und das große Spiel auf mich wartete. Genauer gesagt, wartete es nicht auf mich. Große Spiele finden einfach statt und wenn man an ihnen teilnehmen will, sollte man rechtzeitig hingehen. Während der Woche konnte ich das Haus aber nur ab und zu verlassen, so dass ich kaum trainiert hatte. Auch am Samstag kam ich erst in der 36. Minute ins Stadion, weil ich vorher noch zu Hause durchsaugen und Blumen ins Fenster stellen musste.

Der Trainer wechselte mich gleich ein und wenig später führten wir 1:0. Aber statt Ruhe brachte das Tor nur Hektik hervor, da unser Gegner der Meisterschaftsfavorit, unsere Mannschaft aber nur ein krasser Außenseiter war. Erst als uns in der 67. Minute das 2:0 gelang, kehrte endlich Sicherheit ein, weshalb ich mein Portemonnaie und meinen Schlüsselbund, die ich die ganze Zeit bei mir getragen hatte, dem Trainer zur Verwahrung übergab. Am Ende gewannen wir 4:0, der Favorit war geschlagen. Kaum war der Siegesjubel jedoch verebbt, bemerkte ich, dass der Trainer mit meinem Portemonnaie durchgebrannt war. Das ganze Geld war weg. Ein teuer bezahlter Sieg zum Saisonauftakt. Mir blieb nur der Schlüssel zum Haus. JAN ULLRICH

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