: Der Unrechtsstaat lebt
Zum Mauerbau heute vor 41 Jahren verkündete die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ im Haus am Checkpoint Charlie auf ihrer 129. Pressekonferenz, wie viele Tote die deutsche Teilung gefordert hat
von PHILIPP GESSLER
„Was soll ich erzählen?“, fragt Irmgard Bittner – tja, was? Keine Ahnung, keine Antwort aus dem Publikum in diesem schlauchförmigen Raum. Draußen regnet es wie aus Kübeln, drinnen wird es immer stickiger. An den Wänden hängen meterhohe Fotos von Rainer Hildebrandt und seinem Lebensthema: der Berliner Mauer und ihm als Vorsitzenden des „Museums Haus am Checkpoint Charlie der Arbeitsgemeinschaft 13. August“: Hildebrandt im Museum, Hildebrandt vor der geschlossenen Mauer, Hildebrandt vor der offenen Mauer. Vorne sitzt er: Hildebrandt, alt geworden im Vergleich zu den Fotos. Ein maskenhaftes Greisengesicht, erschienen, um Großes zu verkünden: „Eine erste Nachkriegsbilanz Opfer der deutschen Teilung 1945–1990“, wie es in der Einladung heißt. Eine Pressekonferenz soll das hier sein. Die 129. seines Vereins.
Doch zunächst redet Irmgard Bittner, die Mutter des Mauer-Opfers Michael Bittner. Alexandra Hildebrandt hat ihr das Wort erteilt. Die Frau Hildebrandts hat einen leichten Schal um ihr Haar geschlagen. Mit Hildebrandt ist sie im Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft“. Sie leitet das, was eine Pressekonferenz sein soll. Irmgard Bittner weiß jetzt wieder, was sie erzählen will. Sie fühle sich „hintergangen und betrogen“. Die „BRD-Regierung“ habe „überhaupt nichts für die Opfer getan“. Die 4.000 Euro von der Regierung habe sie für ihre Heizung aufgebraucht.
Mit russischem Akzent gibt Alexandra Hildebrandt das Wort weiter an Rose Richelmann. Deren Mann, Karl-Albrecht Tiemann, wurde am 26. Juli 1955 in Dresden wegen Spionage hingerichtet. Er habe „freiberuflich“ für den Verfassungsschutz gearbeitet. Im Krieg habe er Kurierdienste für die Hitler-Gegner im Kreisauer Kreis geleistet. Im letzten Brief vor seiner Hinrichtung habe er ihr geschrieben: „Denke daran, dass ich Soldat war.“
Jan George darf nun reden. Er ist der Bruder von Götz („Schimmi“) George und „Sohn des hingerichteten Heinrich George“, wie es in der Einladung zu dem heißt, was eine Pressekonferenz sein soll. Alexandra Hildebrandt erklärt, dass es ja „irgendwie eine Hinrichtung“ sei, wenn man wie der große Schauspieler der (Vor-) Kriegszeit im NKWD-„Speziallager“ Sachsenhausen krank sei, nicht behandelt werde und dann 1946 im Lager sterbe. Jan George erzählt, wie sein Vater vom russischen Geheimdienst mehrfach verhört und ins „Speziallager“ gebracht wurde. Dort bekam er eine Blinddarmentzündung, wurde von einem Assistenten der Charité-Legende Ferdinand Sauerbruch operiert und starb an einer Embolie infolge der Operation. Jan George nennt seinen Vater fast nur „George“.
Werner Herbig, ein Streikleiter beim Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, berichtet, dass er dreieinhalb Jahre vom SED-Regime inhaftiert worden sei und sich „damals Nierensteine geholt“ habe. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) habe derzeit keine Zeit für ein Gespräch mit ihm, obwohl der doch dauernd bei „Galadiners“ zu sehen sei. Rainer Schubert, neun Jahre in Haft wegen „Fluchthilfe“, bezeichnet es als „Skandal“, dass die „SED/PDS“ mit ihren „politischen Tätern“ im Senat sitze. Er habe sein Parteibuch der „SPDS“ öffentlich zerrissen. Der Bundestag verweigere SED-Opfern eine „Ehrenpension“. Er werde das Land bald verlassen, wolle hier nicht begraben sein. Hartmut Richter – ebenfalls fünf Jahre wegen Fluchthilfe – klagt darüber, dass er im Rahmen seiner Rehabilitierung für seinen alten „Ford Escort“ nur 1.000 Euro zugesprochen bekommen habe.
Für den jahrzehntelangen Einsatz „möchte ich dir, Rainer, im Namen aller Opfer danke sagen“, ruft Schubert in Richtung Rainer Hildebrandts. Alexandra Hildebrandt sagt, sie sei „unheimlich dankbar, dass er mein Mann ist“. Dann ergreift er das Wort, Rainer Hildebrandt: Wie ein zorniger Gott poltert er mit lauter Stimme über das „große Unrecht, das weiterwirkt, immer noch“. Es sei ein Glück, dass es Leute gebe, die trotz aller „Demütigungen“ immer weiter das DDR-Unrecht aufgeklärt hätten. Die Rede gleicht einem Vermächtnis: „Nehmt euch das mit: Es ist nie zu Ende im großen Unrechtsstaat.“ Alexandra Hildebrandt hat ihm zur Beruhigung unter dem Tisch eine Hand auf einen Oberschenkel gelegt.
Ein Zuhörer steht auf und erinnert an das Wort des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher: Die Kommunisten seien rot lackierte Faschisten. Schubert ruft: Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber sei der einzige Politiker, der die Gedenkstätte des Stasigefängnisses Hohenschönhausen besucht habe. Alexandra Hildebrandt sagt, wer Fragen habe, könne ja nach vorn ans Podium kommen. Dann ist sie zu Ende, die Veranstaltung, die eine Pressekonferenz sein soll. Genau 985 Opfer der deutschen Teilung zählt die „Arbeitsgemeinschaft“. Es sind mehr.
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