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Korrekte Sensationslust

Die Regisseure wissen, dass sich die Welt auf Zelluloid nicht entwirren lässt: Locarno überraschte mit dem Goldenen Leoparden für den umstrittenen deutschen Wettbewerbsbeitrag „Das Verlangen“

Das 55. Filmfestvon Locarno gab sich als politisierte Flaniermeile

von ANKE LEWEKE

Das nennt man wohl Kommunikationsarchitektur: ein hochgelegter Holzsteg, der auf der einen Seite zum gediegenen Kaffeehaus wird, auf der anderen unter einem Vordach zur Podiumsrunde lädt. Unter fein gespanntem Segeltuch installierte das Filmfest von Locarno zwischen seinen zu Kinos umfunktionierten Mehrzweckhallen einen Diskussions- und Meetingpoint. Bei strahlend schönem Wetter konnte man beim Cappuccino die indische Schriftstellerin Arundhati Roy beobachten, die gestenreich über die bevölkerungsfeindlichen Staudämme ihrer Heimat und das Verhältnis von Kunst und Politik sprach. In einer weiteren Diskusssionsrunde beredeten Roger de Weck, Lord Ralf Dahrendorf und andere mal wieder die Zukunft der europäischen Demokratien unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob das Boot wirklich voll ist. Mit seinen schier unendlichen Podiumsdiskusssionen, Installationen, Aktionen und Fotoausstellungen gab sich das 55. Filmfest von Locarno als politisierte Flaniermeile. So waren jeweils am Ende des Stegs Zelte aufgebaut, in denen der Großkurator Harald Szeemann Kunstvideos mit schweren Inhalten zeigte. Dokumentarisches aus Afghanistan etwa, Bänder, die ein indischer Journalist aus der Videothek von Kabul gerettet hat. Irgendwie komisch kam man sich beim Ansehen der Arbeiten vor, mit leicht ungeduldigem Blick scannte man das Material auf der Suche nach den so genannten anderen Bildern aus der Region. Wissbegier als politisch korrekte Ausformung der Sensationslust?

Im Laufe des Festivals traten immer wieder solche Fragen auf. Kann ein Dokumentarfilm, dessen Regisseur drei Monate im Gaza-Streifen verbrachte, dem Zuschauer wirklich das Gefühl des Eingeschlossenseins vermitteln? Ist es wirklich die Aufgabe des iranischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf, ein afghanisches Mädchen vor laufender Kamera zu überreden, ihren Schleier abzunehmen? Vielleicht lag es an der offenen Art der Locarno-Chefin Irene Bignardi, dass dem Überangebot letztlich nichts Marktschreierisches anhaftete. In selbstverständlichem Gestus sprach sie von der Politisierung seit dem 11. September und verzichtete dabei auf die übliche Großrhetorik, verstand ihr aus allen Nähten platzendes Programm vielmehr als Sammelbecken der politischen Haltungen, Ansätze und Lebensweisen. Statt sich von knalligen Schlagworten und zusammengeschusterten Themenreihen ködern zu lassen, musste man sich sozusagen das eigene Festival, die eigene Haltung und die eigenen Fragen zusammensuchen.

Auch die Filme des Wettbewerbs folgten dem Prinzip Offenheit, versammelten eher persönliche Ansätze und Beschreibungen oder einfach Angebote, die Gegenwart wahrzunehmen. Momentaufnahmen geballter Aggressionen zeichnete der Ungar Kornél Mundruczó in seinem seltsam abstrakten Film „Pleasant Days“ (Silberner Leopard für den besten Nachwuchsfilm) auf. Nur noch mit dem Körper können sich seine Kids Ausdruck verschaffen. Die Mädchen stellen sich in knapper Kleidung zur Schau, die Jungs schlagen bei jeder Gelegenheit zu. Manchmal gibt es auch zärtliche Berührungen, etwa wenn der Hauptdarsteller aus dem Gefängnis kommt und von seiner Schwester liebevoll gewaschen wird. Erwachsene tauchen nicht mehr auf in dieser Welt, die aussieht wie eine apokalyptisch gewendete Calvin-Klein-Reklame.

Auch in Diego Lermans Spielfilmdebüt „Tan de Repente“ (Silberner Leopard) wird das punkige Outfit längst von einem anderen Lebensgefühl ausgefüllt. Zwei gepiercte Lesben, die sich Mao und Lenin nennen, schnappen sich eine biedere Verkäuferin und ziehen durch ein grobkörnig gefilmtes Argentinien. Man fährt ans Meer und in die Provinz, eine alte Tante besuchen, die mit einer Vegetarierin und einem Biologiestudenten zusammenwohnt. In aller Selbstverständlichkeit entsteht eine exzentrische und dennoch in sich stimmige Wahlfamilie. „Pleasant Days“ und „Tan de Repente“, zwei Filme, die den Zuschauer alles andere als an die Hand nehmen. Ganz wie die Helden ist man auf sich allein gestellt und muss sich einen Weg durch die vorgefundene, eher schroffe Wirklichkeit bahnen.

Auch nach Filmende wandert man noch eine Weile mit ihnen, weil man immer noch nicht auf alle Fragen Antworten gefunden hat; weil ihre Regisseure wissen, dass sich die verfahrene Welt um einen herum nicht so einfach auf Zelluloid entwirren lässt. Mit braven Erklärungen und wiedergekäuten Kausalitäten wartete hingegen Iain Diltheys deutscher Wettbewerbsbeitrag „Das Verlangen“ auf, der überraschenderweise mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde. Es ist das Schweigen ihres Mannes, an dem eine Pfarrersgattin hier verzweifelt. Belämmerter Kirchenchor, lästernde Verkäuferinnen und Butterbrote mit ekliger Wurst, Gürkchen und einem Schuss Mayonnaise – die typisch deutsche Spießigkeit. Doch Dilthey schaut nicht hinter die Zeichen, er behauptet es bloß. Vielleicht wirken seine Figuren deshalb wie die bekannten Abziehbilder der Tristesse. Schade, denn der formale Minimalismus des Films wird von der vorgefertigten Weltsicht seines Regisseurs immer wieder über den Haufen gerannt. Manchmal sind die Antworten im Kino schon klar, bevor überhaupt eine Frage gestellt wird.

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