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Der mutlose Souverän

Bei den Wählern überwiegt die Reformbereitschaft. Theoretisch. Wenn es an den eigenen Geldbeutel geht, hört der Mut zur Veränderung schnell auf

von RALPH BOLLMANN

Elf Themen, fünf Parteien – und am Ende doch ein einziges Programm. In den vergangenen Wochen haben die Autoren der taz-Wahlkampfserie versucht, hinter den Insznenierungen der Wahlstrategen die politischen Unterschiede aufzuspüren. Das Ergebnis war stets: Alle sind sich einig, was nach der Wahl passieren muss. Aber niemand will es vorher offen sagen.

Wie das Deutschland der Zukunft aussehen wird, wissen die meisten Parteistrategen ziemlich genau – ob sie das Neue nun fürchten oder herbeiwünschen: Weit mehr Menschen als bisher wandern nach Deutschland ein. Schulen und Hochschulen müssen sich dem Wettbewerb stellen. Die Steuerzahler freuen sich über ein leicht durchschaubares System ohne Ausnahmen. Steuernachlässe gibt es nicht mehr für Hausfrauen, sondern für Kinder. Kein 18-Jähriger wird mehr zu Bundeswehr eingezogen. Wir alle sorgen privat für unsere Rente vor. Und und und.

Das Schönste daran ist: Die große Mehrheit der Wähler wünscht es sogar. „Die Reformbereitschaft überwiegt“, will der Meinungsforscher Manfred Güllner herausgefunden haben. Unverständlich findet Güllner, warum die Politiker den Wählern keinen reinen Wein einschenken – auch wenn der Demoskop weiß, dass er mit dieser Sicht „ein bisschen alleine“ dasteht.

Denn der Wähler, das angeblich so reformfreudige Wesen, verliert ziemlich schnell den Mut – und zwar dann, wenn es ihm selbst an den Geldbeutel geht. Wann immer die Meinungsforscher nach ganz konkreten Einschnitten fragen, sehen die Prozentzahlen ganz anders aus. So konnten sich in einer Umfrage des Allensbach-Instituts nur 20 Prozent der Befragten mit einer stärkeren Eigenvorsorge bei der Rente anfreunden. Geht es gar um die Gesundheit, sinkt die Reformfreude auf kaum messbares Niveau: Für höhere Zuzahlungen sprachen sich nur magere 4 Prozent der Befragten aus.

Für das gespaltene Wählerbewusstsein gibt es auch in der Praxis Beispiele zuhauf. Etwa im bankrotten Bundesland Berlin, wo der Problemdruck am größten und der Reformbedarf am drängendsten ist. Jahrelang forderten alle ein radikales Sparprogramm, selbstredend ohne Rücksicht auf irgendwelche Klientelinteressen. Kaum aber tippt der rot-rote Senat ein paar Punkte an, geht ein Aufschrei der Entrüstung durch die Stadt, protestieren beispielsweise tausende Erzieherinnen gegen eine künftige „Massenkinderhaltung“ in den städtischen Kitas.

Privilegien, so viel steht für die meisten Wahlbürger fest, genießen immer nur die anderen. Deshalb ist auch die Forderung so populär, die Steuersätze radikal zu senken und im Gegenzug alle Schlupflöcher zu stopfen. Dass viele dieser „Schlupflöcher“ den Durchschnittsverdienern zugute kommen, ist den wenigsten bewusst. Steuerfreie Sonntagszuschläge, Fahrtkostenpauschalen oder Eigenheimförderung wären perdu, wenn solch ein Konzept konsequent umgesetzt würde.

Noch schwieriger wird es bei Reformen, deren Nutzen erst in ferner Zukunft spürbar wird. Wer mag im Jahr 2002 auf einen Flug nach Mallorca verzichten, um die Erderwärmung im Jahr 2050 abzumildern? Und welcher Rentner lässt sich heute die Bezüge kürzen, damit sein Auskommen auch in zehn Jahren sicher ist?

An Neues glauben die Menschen nicht eher, als bis sie es „mit Händen greifen können“: Das wusste der Politikberater Niccolò Machiavelli schon vor fünfhundert Jahren. Zur Reformblockade neigten all jene Bürger, „die sich in der alten Ordnung wohlbefinden“. Das ist in der Bundesrepublik immer noch die große Mehrheit. Und die Wirtschaftskrise hat die Angst verstärkt, dass jede Veränderung ins Negative ausschlagen wird.

So dumm, wie es die Experten für ökologische oder ökonomische Prognosen glauben machen, ist diese Haltung der Wähler allerdings nicht. Ihr Unwille, sich mit den Problemen von übermorgen zu befassen, hat viele Fehlentwicklungen verhindert. Wäre die Bundesregierung beispielsweise bei der privaten Altersvorsorge früh und entschlossen vorgeprescht – dann erginge es den deutschen Rentnern womöglich schon heute wie ihren britischen Altersgenossen, die in betriebseigene Pensionsfonds auf Aktiensbasis einzahlten und jetzt um ihre Rente fürchten müssen.

Es mag schon sein, dass die Sozialsysteme in zehn oder zwanzig Jahren vor großen Problemen stehen – aber ob es genau die Probleme sind, die wir heute voraussagen, ist nach aller Lebenserfahrung sehr unwahrscheinlich. Die Konstellationen in Wirtschaft und Gesellschaft können sich schnell ändern und mit ihnen auch die politischen Antworten.

Entgegen dem wohlfeilen Gejammer über die Personalisierung der Politik ist es deshalb klug, dass sich die Wähler eher an Personen als an Programmen orientieren. Wem traue ich am ehesten zu, in einer überraschenden Situation in meinem Sinne zu entscheiden? Da helfen Programme nicht weiter, das ist vor allem eine Frage des persönlichen Vertrauens.

Das gilt umso mehr in Krisenzeiten. Nur noch 26 Prozent der Wähler blicken laut Allensbach den erwarteten Veränderungen positiv entgegen. Vor vier Jahren glaubten die meisten Befragten noch, die anstehenden Reformen kämen in erster Linie Familien mit Kindern, Arbeitnehmern, Geringverdienern und Ausländern zugute. Inzwischen werden am häufigsten Staat und Unternehmer als mutmaßliche Profiteure genannt.

Auch der neuen Ernüchterung lassen sich indes positive Seiten abgewinnen. Sie könnte dazu führen, schreibt die Allensbach-Forscherin Renate Köcher, dass die nächste Regierung „deutlich weniger mit unrealistischen Hoffnungen befrachtet sein wird“.

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