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Tod an der Mauer

Mitleid braucht ein Gesicht: Am 17. August 1962 stirbt Peter Fechter an der Mauer. Sein dokumentierter Tod wurde Sinnbild des DDR-Grenzregimes

Die Bilder des Sterbenden haben seinen Fall so bekannt gemacht

von PHILIPP GESSLER

Warum nicht Klaus Brueske, Günter Litfin oder Roland Hoff? Brueske war erst 23 Jahre alt, Litfin gerade mal 24, Hoff nicht älter als 26. Weshalb nicht Doris Schmiel, die 20 Jahre alt war, als sie am 19. Februar 1962 beim Versuch der Flucht aus der DDR an der Berliner Mauer erschossen wurde? Warum redet niemand von Ida Siekmann, die neun Tage nach dem Mauerbau aus dem dritten Stock ihrer Wohnung an der Bernauer Straße in den Wedding sprang, den Sprung aber nicht überlebte? Kennt sie kaum jemand, weil sie schon 58 Jahre alt war, eher unauffällig aussah und nicht erschossen wurde?

Warum sind all diese Menschen, die vor Peter Fechter dem DDR-Grenzregime zum Opfer fielen, so unbekannt? Bereits vor dem 18-jährigen Bauarbeiter, der heute vor 40 Jahre erschossen wurde, starben an der Berliner Mauer, je nach Rechenweise, rund 30 Menschen. Nach ihm sollen es nach Rechnung der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ des Hauses am Checkpoint Charlie noch einmal 140 gewesen sein (und insgesamt kommt die Arbeitsgemeinschaft gar auf fast 1.000 Tote der deutschen Teilung zwischen 1945 und 1989).

Warum also ragt Peter Fechter aus dieser unbekannten Masse im öffentlichen Bewusstsein heraus? Wie und weshalb wurde der junge (Ost-)Berliner zur immer noch bekannten Symbolfigur der Mauer, die Deutschland 28 Jahre in zwei Staaten trennte? Was machte ihn zum berühmtesten Mauertoten und zum Sinnbild des moralischen Bankrotts eines Staates, ja einer Staatsideologie? Und warum hat sein schlichter Name auch international solch einen Klang? (Kleiner Beleg: Wer „Peter Fechter Wall“ in die Internet-Suchmaschine Google eingibt, erhält rund 500 Einträge. Bei „Doris Schmiel Wall“ sind es gerade mal 15 – und nur einer nennt sie als Mauertote.)

Ein Grund für die herausragende Rolle Fechters bei der Erinnerung an die Mauer ist in der besonderen Tragik und Dramatik der Umstände seines Todes zu suchen: Seit dem Mauerbau am 13. August 1961 hatte sich die Situation in der getrennten Stadt politisch immer mehr aufgeheizt, da nun deutlich war, dass die Mauer kein schnell vorübergehendes Phänomen sein würde, die DDR-Bürger de facto eingemauert waren.

Die Nerven auf beiden Seiten des „antikapitalistischen Schutzwalls“ lagen zudem im Frühsommer und Sommer bloß: Am 23. Mai etwa versuchte der vierzhenjährige Erfurter Wilfried Tews, durch den Spandauer Schifffahrtskanal von Mitte in Richtung Tiergarten zu schwimmen. DDR-Grenzsoldaten gaben über hundert Schüsse auf den „Republikflüchtling“ ab, mehrmals wurde er getroffen, rettete sich aber in den Westen und überlebte. Einige Schüsse schlugen auch auf Westberliner Gebiet ein. Das gab der Westberliner Polizei die Legitimation, zurückzuschießen. Offenbar ein Querschläger aus dem Westen verletzte dabei den DDR-Unteroffizier Peter Göring tödlich.

Im Mai hatte es darüber hinaus den größten Sprengstoffanschlag auf die Mauer gegeben, und am 18. Juni war der DDR-Grenzsoldat Reinhold Huhn von einem Fluchthelfer bei einem Tunnel am „Springer“-Hochhaus in Kreuzberg erschossen worden. Die Grenszoldaten des SED-Staats waren verunsichert, ja verängstigt: Ihr Dienst konnte auch für sie tödlich enden.

In dieser aufgeladenen Situation entschließen sich Fechter und ein Kumpel aus seiner Baubrigade, Helmut Kulbeik, nahe dem Checkpoint Charlie zur Flucht nach Kreuzberg. Sie überwinden die ersten Absperrungen im Osten, rennen über den „Todesstreifen“ und erreichen die eigentliche Mauer zum Westen. Die Grenzsoldaten Rolf Friedrich und Erich Schreiber eröffnen ohne Vorwarnung das Feuer auf die Flüchtenden. Kulbeik gelingt es noch, über die Mauer zu klettern, Fechter wird auf der Mauerkrone von Kugeln getroffen und sinkt auf östlicher Seite herab.

Die DDR-Grenzsoldaten lassen Fechter liegen – aus Angst vor den dutzenden Polizisten auf der Westseite und auch weil lange niemand klare Befehle gibt. Fechter ruft, langsam verblutend, um Hilfe. Seine Rufe werden immer leiser. Hunderte Westberliner sind zusammengeströmt, beobachten das Geschehen, schreien „Mörder, Mörder!“ und „So tut doch endlich was!“ in Richtung Osten. Westberliner Polizisten klettern auf die Mauer, werfen Verbandszeug herab, aber Fechter kann sich nicht mehr selbst helfen.

Das Drama dauert über 50 Minuten. Fotografen klettern auf die Mauer – aber statt zu helfen, schießen sie mit ihrer Kamera den Sterbenden noch einmal ab. Zwei Kamerateams sind herbeigeeilt, nehmen die schreckliche Szene auf. Westberliner Bürger fordern die US-Soldaten am Checkpoint Charlie auf, Fechter zu retten, schließlich ist die Stadt weiter unter der Kontrolle der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Doch die amerikanischen Soldaten erhalten von ihren Vorgesetzten Order, nicht einzugreifen. Ein überfordert-unsensibler US-Leutnant soll „Sorry, but this isn’t our problem“ gesagt haben.

Fechter ist verstummt. Endlich entschließen sich die DDR-Grenzer, den halb toten Mann aus dem Todesstreifen zu schleppen. Sie werfen eine Nebelgranate, um sicherer vorgehen zu können. Als der Nebel weggezogen ist, können die Kamerateams noch dokumentieren, wie die Uniformierten den reglosen Körper in einen Wagen packen. Die Bilder gehen um die Welt. Weniger als zwei Stunden später verstirbt Fechter in einem Krankenhaus in Ostberlin. Die DDR-Grenzer erhalten noch am gleichen Tag Geldprämien für ihre Tat. Der Gefreite Schreiber wird zum Stabsgefreiten befördert.

Nach der Wiedervereinigung wird wegen der Schüsse auf Fechter gegen Friedrich und Schreiber ein Prozess eröffnet. Knapp 35 Jahre nach dem Tod Fechters. Im März 1997 verurteilte das Berliner Landgericht die ehemaligen DDR-Grenzsoldaten wegen gemeinschaftlichen Totschlags zu Bewährungsstrafen von 20 und 21 Monaten Jugendstrafe.

Die Empörung über den Tod Fechters führte in den Tagen nach dem 17. August 1962 zu Unruhen, ja Straßenschlachten in Westberlin: Über 20.000 Studenten demonstrierten gegen das DDR-Regime – es waren die größten Demos bis zu den Studentenunruhen des Revoltejahrs 1968. Auf Anweisung der Westalliierten geht Westberliner Polizei mit Gummiknüppeln gegen die Demonstranten vor, DDR-Grenzer werden mit Flaschen und Steinen beworfen. Mehrere Scheiben eines sowjetischen Militärbusses werden eingeworfen. Erstmals hört man auch antiamerikanische Töne, Proteste gegen die Tatenlosigkeit der Schutzmacht.

Die Dramatik des Fluchtversuchs, die Kaltblütigkeit der DDR-Grenzsoldaten, die Hilflosigkeit und das Versagen der Berliner Polizei und der amerikanischen Soldaten – all diese Umstände haben Fechter aus den vielen Mauertoten herausgehoben. Vor allem aber, so urteilt Hans-Hermann Hertle, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, gründet sich die Bekanntheit Fechters auf sein fast öffentlichen Sterben: Die Bilder des recht hübschen und so elend sterbenden Jünglings hätten den Fall so bekannt gemacht, meint der Mauerexperte, der eine Dokumentation über die Mauer erstellt hat. Dabei seien gerade die „Paparazzo“-Bilder des verblutenden Fechter „moralisch dubios und zweifelhaft“.

Theo Mittrup vom Berliner SED-Opfer-Verband „Bund der stalinistisch Verfolgten“ sagt, es sei auch „ein bisschen zufällig“, dass gerade Fechter zu einer „Galionsfigur“ geworden sei. Mit einigen Einschränkungen passe der Vergleich mit Anne Frank: Auch sie symbolisiere als Einzelperson das ungleich größere Leiden der NS-Opfer. So funktioniere Gedenken in einer Mediengesellschaft, sagt Mittrup: Mitleid brauche ein Gesicht.

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