Vom Winde verschmäht

Bombenwetter in Lemwerder. Trotzdem gab es beim Drachenfest ein Murren – wegen Flaute und Möllemann, der dank Reserveschirm nicht unangespitzt in den Boden gerammt wird

Möllemann kommt bei den Drachenbauern gar nicht gut an

Karlheinz Wessel flüchtet sich hinter seinen roten Kleinbus. Die Hitze, fast unerträglich. Ehefrau Eva-Maria hat es sich schon auf einem Klappstuhl bequem gemacht. Ein Schlückchen Kaffee, ein Stück Bienenstich und ein Postkartenblick auf die Weser. Seit einigen Jahren macht sich das Rentnerehepaar aus Hildesheim sommers nach Lemwerder auf, parkt den Kleinbus auf dem Ritzenbütteler Sand und streckt prüfend die Finger in die Luft: Wind oder nicht Wind, das ist hier die Frage.

Am Samstagnachmittag sieht es beim „11. Drachen über Lemwerder“ brisentechnisch mau aus. Die beiden Wesselschen Prunkstücke – zwei origamiartige Rautengebilde – liegen dekorativ am Boden. „Der rot-schwarze ist eine Spezialanfertigung eines Bekannten“, erzählt Karlheinz Wessel. “Extra für mich, ein Einzelstück.“ Fliegen wird das hüfthohe Konstrukt heute allerdings nicht, dafür ist zu wenig Wind. Kleine Lenkdrachen dagegen surren blitzschnell vorbei, Drachenschwänze flattern. 300 Meter entfernt will sich ein überdimensionaler schwarzer Wurm in die Lüfte erheben. Er bäumt sich auf, versucht krampfhaft nach oben zu gelangen.

Fliegen kann laut Karlheinz Wessel „im Grunde genommen alles. Es kommt nur auf den Wind an.“ Und der sorgt bei den Drachenfliegern, die aus aller Welt nach Lemwerder gepilgert sind, für hängende Mundwinkel. Flautenbedingte Programmlücken werden mit Bumerang- und Modellflugzeugvorführungen gestopft. Den Kinderscharen macht es trotzdem Spaß, das Kistenstapeln, Bonbonfangen, Hüpfburgtoben. Die Erwachsenen müssen auf ein Aquarium und das Fußballspiel in schwindelnder Höhe verzichten. Dafür ist der Himmel hier und da mit knallbunten Kreiseln, kleinen Eulen und Rautenketten gespickt.

450 Mark hat Karlheinz Wessel vor fünf Jahren für seinen rot-schwarzen Liebling aus Spinnaker-Nylon berappt. Das Rentnerpaar hat sich seinem Hobby inzwischen völlig hingegeben: „Wir verzichten schon mal auf Weihnachtsgeschenke“, lächelt Eva-Maria Wessel, „um für ein Liebhaberstück zu sparen.“ Ein Schiff zieht auf der Weser vorbei, perfektes Panorama.

Nur Peter Lynn passt nicht ins idyllische Bild. Er ist sauer, stinksauer. Extra aus Neuseeland ist er gekommen und jetzt muss er zähneknirschend zusehen, wie sein 27 Meter langes buntes Fantasiewesen nach ganzen sieben Minuten wieder den Boden der Tatsachen küssen muss. Er murmelt Flüche. Das alles wegen ein paar Fallschirmspringern.

Seinen ersten Drachen hat er schon im Jahr 1971 gebaut, als „Drachen über Lemwerder“ noch nicht mal eine Idee war. Inzwischen ist der 55-Jährige in seinem Heimatland fast schon eine Ikone für Drachenflieger. In Neuseeland, schwärmt er, habe er einen bunten Drachenfisch, der 13-mal so groß sei, wie das 27-Meter-Wesen hier. Ein bloßes Hobby ist das Drachenbauen für ihn schon lange nicht mehr. Er bietet Freizeitspäße wie Kitesurfing (ein Drachen ans Surfbrett geknotet), Kitebuggying (ein Drachen zieht breitbereifte Strandgefährte) oder Kitesailing (Drachenkombination mit Segelboot) an.

„Fliegen kann im Grunde genommen alles. Es kommt nur auf den Wind an.“

Doch jetzt schrumpeln die bunten Nylonlieblinge im Gras herum. Das Publikum blinzelt erwartungsvoll gen Sonne, wo gerade blau-gelbe Blasen aufpoffen, zweimal neun. Platz für Jürgen Möllemann und seine Fallschirmspringer. 18 Mann legen eine liberale Landung auf dem Ritzenbütteler Sand hin. Nur bei Möllemann gibt es Komplikationen: Der Fallschirm öffnet sich nicht, und so muss der FDP-Mann in mehr als 1.000 Metern Höhe waghalsig den Notschirm öffnen. Ein Überraschungsbesuch. Die Drachenflieger grummeln jedoch wenig erfreut in ihre Bärte, stinkig, weil ihnen wertvolle Minuten guten Windes gestohlen wurden. Hinterher klagt Möllemann über Nackenschmerzen. Ein Materialfehler, heißt es. Kein Sabotageverdacht gegen Peter Lynn und Co.

Der macht indes schon wieder den Traktor startklar, der sein riesiges farbenfrohes Fischwesen nach oben ziehen soll. Von weitem sieht man eine Stunde später dann doch die großen Drachen über Lemwerder: Ein Meer aus bunten Fabelwesen, Eulen, Fischen; Graf Zahl, mit unsichtbaren Nadeln an eine azurblaue Leinwand gepinnt. Inmitten schwebt neuseeländische Drachenkunst. SPO