: Der stets geopferte Sohn
Mütter bedeuten Krieg im Werk von Einar Schleef. Sie liegen der Schleef-Rezeption noch wie ein Stein im Magen. In Schwerin wagen sich jetzt die Studenten der Theatergruppe Agon an seine „Mütter“
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Wo Mütter auftreten, kommt der Krieg ins Werk von Einar Schleef. In Schwerin haben sich Schauspielstudenten aus Berlin und Hamburg seine „Mütter“ vorgenommen, die seit der Inszenierung in Frankfurt 1986 nicht mehr gespielt wurden; an der Volksbühne in Berlin arbeitet Edith Clever an der szenischen Begegnung mit „Gertrud“, dem Roman über seine Mutter. Für Einar Schleef, 1944, knapp an der Kante des Krieges, geboren, war die Auseinandersetzung mit der Figur der Mutter immer mit Aggression und Unterdrückung verbunden; mit moralischer Erpressung und der Konditionierung zur Pflicht als ihrer schlimmsten Waffe im Kampf um Liebe und Anerkennung. Mütter sind das Unheimlichste, was es gibt – sowohl in seiner Bearbeitung der antiken Mythen, nach den Tragödien „Die bittflehenden Mütter“ von Euripides und „Sieben gegen Theben“ von Aischylos, als auch im Blick auf die eigene Mutter, die er als lebenslange Instanz, vor der er sich zu rechtfertigen hatte, hinter sich herzog wie einen Berg.
Das alles scheint – zunächst – weit weg von dem Zustand der psychologischen und politischen Aufklärung über die Rolle der Frau, den man erreicht zu haben glaubt. Der Kampf mit der Mutterrolle als pathetischer Figur, die ihre stärksten Auftritte am Grab des geopferten Sohnes hat, wirkt wie eine Schlepplast aus der Nachkriegszeit. Mit feministischer Kritik und Genderdebatte ist sie als fatale Matrix dort historisch eingeordnet, wo die Mütter den Männern nützen in ihrem Streben nach Machterhalt.
Jetzt aber tritt in Schwerin eine Gruppe von jungen Schauspielern auf, gerade mal um die 25, in einer über vierzigjährigen Friedenszeit und in dem Konsens aufgewachsen, dass Frauen vernünftig und friedensbewegt für eine bessere Politik stehen, und fragt erschrocken: Stimmt das überhaupt? Sie fragen es sich angesichts des Schocks über den Konflikt zwischen den USA und islamischen Staaten und angesichts der Hilflosigkeit über den Krieg in Israel. Sie versuchen, sich vorzustellen, was die Mütter palästinensischer Selbstmordattentäter ihren Kindern erzählt haben. In Schleefs „Mütter“ fanden sie das Material, dieses Problem zu beschreiben.
Maik Priebe, Regisseur und Mitbegründer der freien Theatergruppe Agon, entdeckte den idealen Aufführungsort in einem klassizistischen Gebäude, das lange als SED-Parteischule diente und heute Sitz des Wirtschaftsministeriums von Mecklenburg-Vorpommern ist. Schon die Architektur tradiert mit Säulen, Pfeilern und Lampen das Pathos von Ruhmes- und Trauerhallen. Hier findet im Auditorium – lange nur noch als Lager genutzt – jetzt die Betrauerung der Söhne statt, die beim Kampf um Theben fielen.
Die „Mütter“ können einem wie ein Stein im Magen liegen, denn nichts beschäftigt sie, außer die Geschicke des eigenen Fleisch und Blutes. Sie sind nicht nur fern jedes politisch korrekten Frauenbildes, sondern auch jenseits aller emanzipatorisch sanktionierter Verstöße dagegen. Als Einar Schleef seine Bearbeitung der antiken Tragödien 1986 in Frankfurt am Main, in seiner ersten Inszenierung im Westen, herausbrachte, kam es schon während der Proben zu Vorwürfen von totalitärem Theater und Reichsparteitag-Ästhetik. 70 Frauen, großenteils Laiinnen, spielten den Chor und brachten Lieder und Klagegesänge aus verschiedenen Herkunftsländern mit.
Nach dem Tod von Einar Schleef brachte der Verlag Theater der Zeit ein schönes „Einar Schleef Arbeitsbuch“ heraus, mit Zeichnungen und Fotografien Schleefs, Probenfotos, Tagebuchaufzeichnungen und Kommentaren, Texten über seine Stücke und seine Person. Da erinnern sich der Schauspieler Martin Wuttke und der Dramaturg Carl Hegemann unter dem Titel „Wie Einar Schleef 1986 in Frankfurt das Theater abschaffte“ an die Aufregung auf der Bühne und die Empörung der Zuschauer über die „Mütter“. Nach zehn Aufführungen wurde die Inszenierung abgesetzt, zu sehr verstieß die Form des Rituals gegen die Vorstellung von Theater.
Mit Schleef als Regisseur will sich die kleine Gruppe in Schwerin nicht messen, aber als Autor ist er ihnen wichtig: Denn sie finden bei ihm formuliert, was jetzt wieder stattfindet. Auch in ihrem Spiel, das ohne die Ästhetik der Masse auskommen muss, ist die Rückkehr in die Logik und Rhetorik des Krieges erschreckend. Die Beobachtung der Schlacht, die Einstimmung auf Abwehr, das Schüren des Hasses, die Beschimpfung der Feinde: Je mehr sie darin aufgehen, desto unbehaglicher wird es. Es ist der Moment der Bedrohung, der den Chor hervorbringt und seine Redeweisen des Flehens, des Bittens, der Verteidigung, des Befehlens und der Überwältigung.
In Schleefs Organisation des mythischen Stoffes geht die Betrauerung der Toten der Tragödie voraus, in der der Krieg erklärt wird. Die eben noch ekstatisch beklagten Helden lernt man im zweiten Teil als die Aggressoren kennen. So wird der Zirkel von Mord und Rache in seiner Unausweichlichkeit gesteigert und Katharsis rückt in weite Ferne. Kein Wunder, dass man das nicht aushält. Die Sprache aber formiert sich an diesem Nichtaushalten.
„Für Jüngere, die ihren Ton, ihr „Idiom“ suchen“, schreibt Hans-Thies Lehmann, Professor für Theaterwissenschaften aus Frankfurt am Main im „Arbeitsbuch“, „bleibt Schleefs Theater, bleibt sein Versuch, eine Art Gruppen- und Projekttheater im Stadttheater zu verwirklichen, bleibt seine querulante Konsequenz eine Inspiration“. Seine Produktionsformen waren bedrohlich für den Theaterbetrieb, sein Umgang mit der Gewalt von Körper und Sprache bedrohlich für den Konsens über die Vernunftfähigkeit des Menschen. Bisher hat sein Ruf als Regisseur die Beschäftigung mit dem Autor überdeckt. Wie das, was in der Sprache so beunruhigend aufbricht, weit über persönliche Obsessionen hinausgeht und Konflikte berührt, die unserem Selbstverständnis widersprechen, wird in Zukunft auch in der Arbeit mit seinen Texten weiter kenntlich werden.
Info zu Agon (01 73) 2 96 83 69. „Einar Schleef. Arbeitsbuch“, Theater der Zeit, Berlin 2002, 15,– €
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