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Hochwasser-Routine

In den Vier- und Marschlanden müssen Menschen ihre Ferienhäuser in Overwerder räumen. Das finden sie übertrieben, räumen aber trotzdem Sofas auf Tische und fahren nach Hause. So wie sonst im Herbst, wenn die Sturmfluten kommen

von SANDRA WILSDORF

Thomas-Frank Schultz war elf Jahre alt, als 1962 die große Flut über Hamburg kam. Damals haben sie ihn per Schlauchboot aus dem Haus in Overwerder gerettet. Bis heute hängt ein Foto davon in dem kleinen Haus: Bis kurz unters Fenster stand damals das Wasser. Jetzt kommen Erinnerungen hoch, denn Dienstagabend haben die Bewohner der Ferienhaussiedlung in den Vier- und Marschlanden erfahren, dass sie wegen Hochwassergefahr bis gestern abend 20 Uhr ihre Häuser räumen müssen.

Schultz hält das für übertrieben, aber er hat trotzdem den Fernseher nach Hause gebracht, den Teppich rausgerissen und die Stühle auf den Tisch gestellt. So richtig Angst hat er nur um die Goldorfen in seinem Teich. Die Fische haben zum ersten Mal Junge bekommen. Damit die Elbe sie nicht mitnimmt, hat er ein Netz über den Teich gespannt, „aber es geht ja auch um den Sauerstoffgehalt des Wassers. Der sinkt.“

In Overwerder ist das Wasser ein regelmäßiger Gast. Hier und im benachbarten Overhaken stehen etwa 500 Ferienhäuser vor dem Hauptdeich direkt an der Elbe. Die Menschen haben ihre kleinen Häuser vorsorglich auf fünf bis sechs Meter hohe Betonfundamente gebaut. Den Keller darunter teilen sich Mensch und Elbe: „Da kann man auch drin kochen“, sagt Ursula Dwenger. Und wenn Hochwasser ist, dann räumen sie die Sachen eben raus. Jetzt haben die Dwengers alles Wertvolle in ihr Auto verladen und nehmen es mit in ihre Wohnung. Oben im Haus steht auf einem Tisch noch ein Tisch und obendrauf das Sofa. Sie machen ihr Häuschen fertig für das Wasser. Wie jedes Jahr.

Doch normalerweise tun sie das nicht vor Ende September. Und was dann kommt, sind Sturmfluten, die auch schnell wieder gehen. Jetzt kommt das Wasser von der anderen Seite, „wir haben Angst, dass da Gift mitkommt“, sagt Wilfried Dwenger. Vor dem Wasser, nein, da würde er sich nicht fürchten. „Das läuft doch hier zehnmal im Jahr rein. Meist begnügt es sich mit einem Besuch im Keller.

Und wenn es doch mal in den Wohnraum guckt, ist auch das kein Drama, „wir leben hier mit dem Wasser“, sagt auch Gretchen Harnack. Dass die Kinder auf dem Fußballplatz Wasserball spielen, komme immer wieder vor. Ihr Mann Herbert ist schon in diesem Haus geboren. Seit 65 Jahren kommt er in die idyllische Kolonie vom „Arbeitersportverein“. Und auch die Kinder haben hier jetzt ein Häuschen. Die Harnacks finden „blöd“, dass sie ausgerechnet jetzt gehen müssen, wo doch das Wetter so schön ist. Aber sie wollen nicht klagen, „viele haben ja ihr Zuhause verloren, und bei uns geht es nur um ein paar Wochenendhäuser und um ein Wochenende“, sagt Herbert Harnack. Zwar glaubt hier niemand, dass die Elbe wesentlich höher kommt als sonst, „aber die Ascheimer liegen platt und sind leer“, die Möbel lassen sie einfach stehen, „und morgen kommen wir wieder.“ Wenn man sie durchlässt.

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