Aufbruchsstimmung in der Schachtel

Neuer Mut nach den Reformen: Bis vor einem Monat herrschte in der türkischen Provinz Tunceli noch der Ausnahmezustand. Zum Munzur-Festival strömten nun zehntausende Besucher in die Region, nicht zuletzt auch aus der deutschen Diaspora

von GABRIELE THIERKOPF

Die Teegärten und Lokale am Ufer sind brechend voll. Auf Plastikstühlen sitzen Familien und Freunde bei Tee oder Raki zusammen; Jugendliche in Jeans und T-Shirt, dazwischen alte Männer mit Baskenmütze und imposanten weißen Schnurrbärten und Frauen, die ihre langen Zöpfe mit einem siebenfarbig gestreiften Kopftuch bedeckt halten, darüber locker ein weißes Tuch mit gestickter Bordüre geworfen. Türkisches Stimmengewirr, in das sich häufig deutsche Sätze mischen, konkurriert mit dem Planschen der Kinder im Wasser. Zaza, die mit dem Kurdischen verwandte Sprache der Region, hört man dagegen selten: ein Ergebnis der strikten Assimilierungspolitik in der Türkei, die erst im vergangenen Monat mit dem historischen Parlamentsbeschluss, den öffentlichen Gebrauch von Minderheitensprachen wieder zuzulassen, eine Lockerung erfahren hat.

Tunceli, die Kreisstadt der gleichnamigen anatolischen Provinz, liegt malerisch im Tal des Munzur-Flusses. An beiden Seiten ziehen sich Häuser die Hänge empor, verbunden durch schwankende Fußgängerbrücken. Jahrzehntelang war die Region, die viele auch unter dem Namen Dersim kennen, von Auswanderung geprägt, von Flucht vor der wirtschaftlichen und politischen Misere. Doch für ein paar Tage sind die Menschen zurückgekehrt, aus den türkischen Großstädten, aus Europa, manche sogar aus Kanada und Australien. Mehrere zehntausend (!) Gäste zählte man in der Stadt mit ihren 20.000 Einwohnern beim diesjährigen, dritten Munzur-Festival Anfang August. „Tunceli war wie eine verschlossene Schachtel. Jetzt ist sie geöffnet“, freut sich eine alte Frau.

Bis vor vier Wochen galt in der Provinz noch der Ausnahmezustand, der seit 1979 ohne Unterbrechung herrschte. Verschärft wurde die Situation in den Neunzigerjahren durch die Eskalation im Krieg zwischen dem türkischen Militär und der PKK. Den Dörfern wurde ein Embargo auferlegt, die Bauern durften nicht mehr auf ihre weiter entfernten Weideflächen gehen, es bestand nächtliches Ausgangsverbot. Um nach Tunceli zu gelangen, musste man zahlreiche Straßensperren, Polizei- und Militärposten, Ausweiskontrollen und Befragungen hinter sich bringen: als bilde die Stadt ein einziges großes Freiluftgefängnis. Nun aber kann man sich relativ frei bewegen. Die Autofahrer halten aus Gewohnheit und Skepsis zwar nach wie vor an den Kontrollpunkten, werden aber einfach vorbeigewunken.

Tunceli war schon immer eine Region, in der sich die Konflikte des Landes wie in einem Brennglas bündelten. Die meisten Bewohner zählen zur religiösen Minderheit der Aleviten, die ihrer unorthodoxen Tradition wegen bei konservativen Muslimen verschrien sind. Viele davon sind Zaza, eine eigene Volksgruppe, andere Kurden. In anderen türkischen Städten war es selten von Vorteil, sich als aus der Gegend von Tunceli stammend zu offenbaren: „Viele Leute haben es verheimlicht. Aus Tunceli zu sein bedeutete, als Separatist oder Terrorist angesehen zu werden“, sagt Baris, ein junger Mann aus der Kleinstadt Pertek. Oder eben als Häretiker, denn der synkretistische Glaube der Aleviten von Tunceli ist von Naturmystik geprägt – Höhlen, Felsen und Bäume gelten ihnen als beseelt. Der Berg Düzgün Baba, aber auch die Quellen des Munzur-Flusses werden verehrt. An diese Tradition knüpft das Festival an, das unter dem Motto stand: „Rühr meinen Munzur nicht an!“ Denn der Munzur wird durch ein Staudammprojekt bedroht.

Zwar wurde das Munzur-Tal schon 1971 unter Naturschutz gestellt, als erster und größter Nationalpark der Türkei. Trotzdem sind dort insgesamt vier Stauseen zur Energiegewinnung geplant. „Manche Dörfer sollen überflutet werden: Das würde wieder Vertreibung und Entvölkerung bedeuten“, befürchtet Özgür Kaplan, Rechtsanwalt und Vorsitzender eines lokalen Umweltschutzvereins, der versucht, das Staudammprojekt zu verhindern, mit starkem Rückhalt in der Bevölkerung. An zahlreichen Schaufenstern hängen Zettel mit Aufrufen, Jugendliche bekunden ihren Protest durch Aufdrucke auf T-Shirts, überall in der Stadt sind Transparente aufgehängt.

Auch das Munzur-Festival dient nicht zuletzt dazu, den Widerstand zu organisieren. Das Programm umfasste Ausstellungen, Theateraufführungen und Podiumsdebatten. Den Höhepunkt bildeten jedoch die abendlichen Konzerte im Sportstadion, mit Stars aus Istanbul wie den Saz-Meistern Arif Sag und Erdal Erzincan, zwei Ikonen der traditionellen Musikszene, oder der Rockband Mogollar. Daneben traten kurdische Gruppen auf sowie Interpreten, die mit Tunceli verbunden sind: der Musiker Metin Kahraman etwa, der Lieder auf Zaza und Türkisch singt und die Volkslieder, Mythen und Geschichten der Region sammelt. Eigens für das Festival haben auch vier Bildhauerei-Studenten aus Mersin am Flussufer symbolschwere Skulpturen aus Stein errichtet: Die Arbeit von Songül Sirin stellt eine Mutter dar, die einen Grabstein trägt. Die monatelange Arbeit der Studenten haben viele Einwohner der Stadt mit Aufmerksamkeit verfolgt. Doch zur Eröffnungsfeier ist keiner der Festivalorganisatoren erschienen. Dabei verspricht sich Bürgermeister Hasan Korkmaz große Impulse von dem Festival. Es komme dem lokalen Handel zugute, außerdem soll es Touristen anziehen.

Dilek und Özlem, zwei Schwestern, die an einem der Stände selbst gefertigte Ketten verkaufen, eröffnet dieser Job einen kleinen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit, unter der so viele Jugendliche der Region leiden. Noch mehr aber bietet ihnen das Festival Gelegenheit, für eine kurze Weile dem monotonen Kleinstadtleben mit seiner rigiden sozialen Kontrolle zu entfliehen: Leute treffen und, am Ufer des Munzur sitzend, Gespräche bis zum Morgengrauen führen. Denn bis zum nächsten Jahr wird es in Tunceli nicht wieder so lebendig sein.

Informationen zum Umweltverein: www.munzurumadokunma.org