: Auf der Straße alt werden
Eine Studie ergibt: Obdachlose bleiben immer länger ohne Wohnung. Sozialsenatorin setzt auf normale Wohnungen. Das dürfte auch den Finanzsenator freuen
Das Leben auf der Straße dauert immer länger. Das ergibt eine Studie, die die Sozialbehörde in Zusammenarbeit mit Wohlfahrtsverbänden in Auftrag gegeben hat. 1281 Männer und Frauen in 117 Hamburger Einrichtungen der Obdachlosenhilfe wurden dafür befragt.
Dabei kam heraus: Die Menschen auf der Straße werden immer älter, und sie sind deutlich länger obdachlos als noch vor sechs Jahren, als schon einmal eine allerdings rein quantitative Befragung gemacht wurde. Und: Je länger sie ohne Wohnung sind, desto größer ist ihre Distanz zum Hilfesystem, desto wahrscheinlicher ist es also, dass sich an ihrer Situation nichts mehr ändert.
Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) sieht sich durch die Studie in ihrem Konzept bestätigt, „statt großer Einrichtungen verstärkt kleinere dezentrale Übernachtungseinrichtungen für obdachlose Menschen zu schaffen“. Auch ihr Parteikollege Frank Schira liest nur Bestätigung und, „dass es gerade in einer Großstadt immer wieder Menschen geben wird, die nicht aus der Obdachlosigkeit befreit werden wollen“. Das glaubt auch die Senatorin. Sie setzt auf „mobile Hilfe, die Wege aus der Obdachlosigkeit aufzeigt“. Das klingt nach Straßensozialarbeit, doch gerade dort hat sie die einzige Stelle in St. Pauli gestrichen. Dabei beklagt auch Dieter Ackermann vom Caritasverband, dass „wir zu wenig Straßensozialarbeiter haben“. Menschen, die Obdachlose beispielsweise bei Behördengängen begleiten.
Ackermann kritisiert außerdem die städtischen Wohnungsbaugenossenschaften SAGA und GWG: „Vor zwei Jahren hatten wir 98 Wohnungen für Obdachlose, im vergangenen Jahr waren es vier.“ Schnieber-Jastram will darüber mit den Wohnungsanbietern sprechen und erreichen, dass Menschen erst gar nicht wohnungslos werden, sich aber auch um Langzeitobdachlose kümmern. Das würde auch den Finanzsenator freuen: Denn ein Monat in einer öffentlichen Unterkunft kostet 470 Euro, ein allein stehender Sozialhilfeempfänger bekommt maximal 318 Euro Wohngeld. Auch bei der akzeptierenden Arbeit solle das Ziel sein, Menschen in Wohnungen zu bringen. Möglicherweise müsse man sie dabei begleiten, vermutet Schnieber-Jastram.
Die Schlussfolgerung, sich in erster Linie um normalen Wohnraum zu kümmern, hält Sieglinde Friess von ver.di für ein „politisch gewendetes Fazit“, das nur zur eigenen Politik passen soll. „Tatsächlich haben die Menschen doch nur zu einem kleinen Teil angegeben, dass sie Wohungen haben wollen. Über die Hälfte aber wünscht sich niedrigschwellige Hilfen wie Tagestreffs.“ Diese Angebote aber erforderten viel Personal, „und das widerspricht dem, was politisch gerade passiert“. SANDRA WILSDORF
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