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Von seltener Gelassenheit

Ein auswändiges, unterhaltsames und erwachsenes Kino: Mit einem Klassiker und drei jüngeren Produktionen beteiligt sich das 3001-Kino an den 3. Brasilianischen Kunst-, Kultur- und Filmtagen in Hamburg

Wo große Bilder das Detail nicht ersticken

von DIRK SCHNEIDER

Der Kuß der Spinnenfrau von Hector Babenco. Central do Brasil und Hinter der Sonne von Walter Salles. Ich, Du, Sie – Darlenes Männer von Andrucha Waddington – auch wenn Brasilien als Filmland hierzulande wenigen ein Begriff ist, ist es keineswegs unbekannt. Und die Beispiele zeigen, dass aus Brasilien oft großes Kino kommt, in zweierlei Hinsicht: Es vermag sein Publikum durch aufwändige Produktionen bestens zu unterhalten. Und es ist ein erwachsenes Kino, das auf eine lange Geschichte zurückblicken kann und mit diesem Erbe sehr selbstbewusst umgeht.

Nach dem obligatorischen Bruch mit der Tradition durch das Cinema Novo in den 60ern, als weltweit filmische Aufbruchsstimmung herrschte, scheint es inzwischen zu jener seltenen Gelassenheit gefunden zu haben, bei der die großen Bilder das Detail nicht ersticken lassen, bei der die große Geste nicht in der angeberischen Pose erstarrt und die Abseitigkeit nicht sofort mit dem Kunstetikett hausieren geht. Eine gewisse Portion Kitsch verträgt sich damit bisweilen ausgesprochen gut.

Ein Klassiker und drei neuere Filme aus diesem Land, die noch nicht den Weg zu uns in die Kinos gefunden haben, werden bei der Brasilianischen Filmwoche im 3001 zu sehen sein. Eingeleitet wird die kleine Reihe von Carlos Diegues‘ Bye, Bye, Brazil von 1979: Eine kleine Varietétruppe tingelt durch ein Brasilien zwischen ländlicher Einfachheit und modernen Städten, deren Symbol die Fernsehantennen sind.

In den Figuren des profitgierigen Managers und des idealistischen Künstlers, der abgeklärten Diva und des unschuldigen Mädchens, alle auf der Suche nach ihren Träumen, spiegelt sich ein Land im Aufbruch und eine Welt, die aus den Fugen geraten zu sein scheint. Ein Happy End ist trotz aller Illusionslosigkeit drin.

Anders 20 Jahre später bei Toni Venturi: Er versetzt in Latitude Zero zwei Städter ins brasilianische Nirgendwo des Mato Grosso, jenes durch den Goldrausch gebeutelte Amazonasgebiet, das in den 80ern die letzte Zuflucht der Arbeitslosen des Landes war. Die hochschwangere Lena trifft dort auf den Polizisten Vilela, der wegen eines Verbrechens aus der Metropole Sao Paolo geflohen ist. Gemeinsam versuchen sie sich eine Existenz aufzubauen, doch sie verzweifeln in einem Kreislauf aus sexuellem Begehren und tiefer Verachtung des anderen – und sich selbst. Das Low-Budget-Kammerspiel ist der erste Spielfilm des mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilmers.

Heiterer geht es zu in den postumen Memoiren (Memorias Postumas) von Bras Cubas: Auf dem Totenbett schildert der seinen Weg zum professionellen Dilettanten in der Oberflächlichkeit und chronischen Langeweile der bürgerlichen Oberschicht des 19. Jahrhunderts. Nach der Vorlage des Literaturklassikers von Machado de Assis (Memorias Postumas de Bras Cuba) erzählt André Klotzel die tragikomische Geschichte eines Vorgängers von Proust und Zeno Cosini, der seine Passage ins Jenseits lange genug herauszögert, um noch seine Memoiren diktieren zu können. Im Dienste der Wissenschaft stellt er eine Beschreibung seines Diliriums im Todeskampf voran; währenddessen sieht man ihn hier auf einem Nilpferd durch Eislandschaften reiten.

Aber im brasilianischen Kino versöhnen sich nicht nur Film und Literatur: Der Fernsehregisseur Guel Arraes hat kurzerhand eine erfolgreiche TV-Mini-Serie zum abendfüllenden Spielfilm zusammengeschnitten und sie unter dem Titel O Auto da Compadecida ins Kino gebracht. Über zwei Millionen Brasilianer sind ihm dorthin gefolgt und haben die in den 30ern angesiedelte Erzählung um die beiden Herumtreiber Jaò Grilo und Chicò zum erfolgreichsten Film des Jahres im Land gemacht.

Grellbunt und lustig geht es hier zu, es wird viel gesündigt und über den katholischen Klerus gelacht. Der Film, dessen Titel etwa „Historienspiel voller Mitleid“ bedeutet, bewahrt sich aber bei allem Klamauk eine sozialkritische Haltung und zeigt großen Respekt vor der Kultur des Volkes. Da ist sie wieder, diese brasilianische Gelassenheit.

Bye, Bye, Brazil: heute (mit Lesung von Ma Deva Pyari) + Mi, 4.9., 22.30 Uhr; O Auto da Compadecida: morgen + Di, 3.9., 22.30 Uhr; Latitude Zero: Sa, 31.8. + Mo, 2.9., 22.30 Uhr; Mermorias Postumas: So, 1.9., 22.30 Uhr, alle O.m.engl.Ut., 3001

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