: Der Sommer des Chamäleons
Der taz-Sommerroman. Über den heißesten Fall des unglaublich gewieften Privatdetektivs John Player. Von Tim Ingold. Zwölfter Teil.
Was bisher geschah (heute erzählt von Dominik, 5 Jahre): „Es war einmal so’n Kameljon namens Rama und dann war das weg und der Detektiv sucht das und dann hat er sich die Beine gebrochen und dann hat ihn eine Frau im Krankenhaus besucht und dann sind die zusammen auf einer Insel in so’ne Luke gefallen und jetzt sind sie beide eingesperrt.“
Es gab schönere Dinge in meiner Vorstellung als gemeinsam mit einer Avon-Beraterin, die übrigens Gudrun hieß (Name geändert, Anm. d. Red.), in einem dunklen Baucontainer eingesperrt zu sein. Doch das war nun einmal die Situation. „Kein Grund zur Lethargie“, sagte ich zu der deprimierten Ilse, „ich habe mir schon einen Fluchtplan überlegt.“ Das war zwar gelogen, aber in psychologischer Hinsicht klug. Dachte ich zumindest. „Sie lügen, John“, sagte Ilse. „Sie haben keinen Schimmer, wie wir hier herauskommen.“ Der telepathische Channel zwischen uns! Ich hatte ihn ganz vergessen. „Sie haben recht, Ilse. Ich habe noch keinen Fluchtplan. Aber gleich.“
Ich kratzte meine mentalen Kräfte zusammen und visualisierte eine Hühnersuppe, die ich in Gedanken auslöffelte. Das hausgemachte Placebo wirkte. Ich rollte vor die Essensluke und wartete. Eine Stunde. Zwei Stunden. Endlich wurde die Luke geöffnet und eine Hand schob eine Fünferpackung Milchschnitten hinein. Blitzschnell packte ich das Handgelenk und riss mit aller Kraft daran. Draußen ballerte der Schädel der Wache mit lautem Gedröhn an das Metall des Containers. Ich hielt den Arm des Bewusstlosen fest, während Ilse ihm die Schlüssel abnahm und es nach einiger Fummelei schaffte, das Vorhängeschloss zu entfernen.
Ich zog die Uniform des Wachmannes über – eine in modischer Hinsicht äußerst unvorteilhafte Kampfmontur in steinoliv mit braunen Applikationen –griff mir das Sturmgewehr und ließ meinen geliebten Kamelhaarmantel zähneknirschend im Container zurück, in den wir auch die halbnackte Wache legten. Mit dem Gewehr im Anschlag ließ ich mich von den Frauen durch die Gänge schieben, bis uns ein Gabelstapler mit einer großen Holzkiste entgegen kam. „Haaalt!“, brüllte ich, „der Stapler ist beschlagnahmt! Machen Sie für heute Feierabend.“ Der Fahrer sprang von seinem Gefährt, schlug vor Freude die Hacken zusammen und ward nicht mehr gesehen.
„Was jetzt?“, fragte Ilse. „Schauen Sie nach, was in der Kiste ist“, sagte ich. Ilse hebelte den Deckel mit dem Pfennigabsatz ihrer Schuhe auf und lugte über den Rand. „Milchschnitten“, sagte sie, nicht sonderlich überrascht. „Okay. Sie beide heben mich zuerst auf den Bock. Dann räumen Sie die Kiste aus und klettern rein. Vergessen Sie nicht, vorher mit ihren Pfennigabsätzen noch ein paar Gucklöcher reinzuschlagen. Und dann den Deckel von innen drauflegen.“ Während Ilse und Gudrun damit beschäftigt waren, versuchte ich mich an meine Zeit als Aushilfsstaplerfahrer bei den städtischen Fliesenwerken zu erinnern. Es misslang, da ich zu dieser Zeit ständig besoffen gewesen war, aber die Bedienelemente bei diesem Gabelstaplertyp waren glücklicherweise mit eindeutigen Symbolen versehen.
Ich gabelte die Frauen auf, und dann durchquerten wir die Katakomben, wobei wir Erstaunliches zu sehen bekamen. Die Anlagen, die wir auf den ersten Blick für automatische Fertigungsstraßen gehalten hatten, waren tatsächlich automatische Fertigungsstraßen. Auf ihren Fließbändern liefen Chamäleons durch verschiedene Produktionsschritte. Zunächst wurden sie geduscht, dann trockengefönt, dann bekamen sie ein kleines Helmchen mit einer Antenne aufgesetzt und dann einen Rucksack aufgeschnallt. In einem letzten Produktionsschritt wurden schließlich Helm und Rucksack miteinander verkabelt. Heilige Scheiße, was zum Teufel soll das denn werden? dachte ich. Und Ilse dachte dasselbe.
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