: Haut als Leitmotiv
Ruhige Versenkung in die Physiognomie der Erinnerung: Lippensynchron folgen die DarstellerInnen des Züricher Theater Neumarkt in ihrer Videooper „Memory“ dem Erlebten dreier Frauen über 90
Die Haut der drei neunzigjährigen Frauen wird zum Leitmotiv der Erinnerung. Zeit ihres Lebens haben sie in ihr gesteckt, sie hat jede ihrer Erfahrungen gespeichert und sie beschützt. Ausschnitte des Dokumentarfilms Mit Haut und Haar von Crescentia Dünsser lassen auf drei Videoleinwänden die zerfurchten Gesichter der Bauhaus-Studentin und Keramikerin Hedwig Bollhagen, der Theaterwissenschaftlerin Gertraude Ils und der Erzieherin Ursula Kage studieren. In ihnen sammelt sich die Erinnerung eines Jahrhunderts.
Memory, der Schweizer Beitrag vom Theater Neumarkt aus Zürich zum Laokoon-Festival auf Kampnagel, nennt sich Videooper, ist aber gänzlich ohne Gesang und daher eher eine ruhige Versenkung in die Physiognomie des Erinnerns. Regisseur Otto Kukla stellt den alten Frauen drei junge SchauspielerInnen zur Seite. Sie betreten die Bühne und entblößen ihren Rücken. Minutenlang sind die Faltenlandschaften und die glatten Flächen der Körper parallel zu sehen und setzen der Kontinuität des Lebens einen hellen Stempel.
Die Jungen verleihen den Alten ihre Stimme, lippensynchron sprechen sie die Lebensgeschichten der wunderbaren Frauen, die ihre Urgroßmütter sein könnten. Da ist die Rede von Kaiser Wilhelm II., der gar keine Krone trug, vom heimlich genaschten Zucker, dem Ende der Kindheit durch den Tod von Großmamachen, dem ekligen ersten Kuss und den Erfahrungen im Krieg. Jedes Räuspern, jedes Innehalten wird durch die Spiegelung deutlicher und vergrößert die Empfindung. Die Schauspielerinnen verleiben sich die Erinnerungen der anderen förmlich ein.
Das junge Amar-Streichquartett macht in einer minimalistischen Komposition von Harald Bluechel den Fluss der Zeit und den Körperpuls spürbar. Irgendwann werden die Stimmen der Frauen hörbar, die Jungen lösen sich von ihnen und beginnen ihr eigenes Leben mit alltäglichen Bewegungen und kameragestützter Selbstbeschau. Die Zeit des Erinnerns ist an den Zuschauer abgegeben: Bleiben in unserem Gedächtnis die Erzählungen oder die Gesichter der Frauen haften? Oder die Inszenierung von Memory? Limo
noch Sa, 21 Uhr, Kampnagel; Mit Haut und Haar: So, 20.45 Uhr, Alabama
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