piwik no script img

Aufschwung West

Das sehr nüchterne und sehr optimistische Pathos der Nachkriegsmoderne: Der Ernst-Reuter-Platz erinnert an eine Zeit, die sich hoffnungsvoll in aufbrechenden Bewegungen manifestierte. So animiert er zu nichts anderem als zum schlichten Weitergehen

von MATTHIAS ECHTERHAGEN

Es ist die Geschichte einer Vision. Als der Ernst-Reuter-Platz Ende der 60er-Jahre sein Aussehen von heute erhielt, liefen die Kräfte der Innovation auf Hochtouren. Aus einer einfachen Kreuzung, wegen ihrer geknickten Form „Knie“ genannt, wurde einer der meistbefahrensten Verkehrskreisel der Stadt. Neue Bürobauten und Institutsgebäude der TU tauchten den gesamten Ort in ein nüchternes und optimistisches Pathos der Nachkriegsmoderne. Zu Ernst Reuter, der Symbolfigur des westdeutschen Demokratiekonsens, passte dieses Pathos gut. Nicht nur in seiner berühmten „Schaut-auf-diese-Stadt“-Rede am 9. September 1948 vor dem Reichstag wusste er die sich zuspitzende politische Situation in der Blockadezeit energisch und eingängig in seine Vision von Freiheit und Sicherheit umzulenken. Das Zeigen in die Zukunft, abgehoben von einem „satanischen, teuflischen System, das der Welt vom Osten droht“, wurde ihm zur wichtigsten Angelegenheit.

Rund um den Platz sind die Weisungen des kalten Kriegers dokumentiert. An der Nordostseite, wo die Straße des 17. Juni in den Kreisverkehr mündet, befindet sich die Bronzeplastik „Flamme“ von Bernhard Heiliger aus dem Jahr 1961. Sie verliert sich genau wie Karl Hartungs zwei Jahre jüngere Skulptur „Kristalline Form“ an der südöstlichen Seite in einer flatternden Aufwärtsbewegung. Am Boden der Flamme sind die Reuterworte eingraviert: „Frieden kann nur in Freiheit bestehen.“

Der tatsächliche Platz mitten im ohrenbetäubenden Verkehrslärm ist nur über einen U-Bahn-Schacht erreichbar. Ein Unicum-Heft liegt hier auf einer Bank, aufgeweicht vom Sprühregen der Wasserfontänen. Eine Frau hält den Fuß ins Wasserbecken und liest, während ein Obdachloser mit verschnürten Päckchen und Tüten im U-Bahn-Schacht verschwindet. Sonst ist niemand an diesem Ort. Ob in der Mitte oder auf den umführenden Wegen, der Ernst Reuter-Platz animiert nur zum Weitergehen. Treffend gewählt scheint daher die wegstrebende Installation „Mobiltwister“ im von außen betrachtbaren Mini-Ausstellungsraum des IBM-Hauses am Ernst-Reuter Platz Nr. 2.

Wenn sie könnte, würde sie losfliegen, ihre Flügel sind weit geöffnet. Aber die hervorgehobene Mobilität der Installation wirkt verzerrt und verbraucht, wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das nicht mehr stimmt. Und die riesigen mobilen Schneisen zwischen den umliegenden Gebäuden, die den Blick einmal frei machen und zulenken solllten auf den Himmel, erinnern nur noch an Zukunftsvisionen einer müde gewordenen West-Architektur. Was alle Aufmerksamkeit augenblicklich einsaugt und wegtreibt, sind wuchtige Betonbauten und zigtausend kreiselnde Autos. Gegen ihre unzeitgemäße und ungemütliche Lage setzt die „Bauwert Property Group“ gleich neben dem „Mobiltwister“ einen obskuren „Branding-Effekt“ sowie ein bemüht wirkendes Webdesign.

Ein Klick auf das verfremdete Firmengebäude führt von seiner Tages- zur Nachtansicht. Glitzerne Lichter sollen urbanes Leben suggerieren, das es draußen nicht gibt. Ein aus Schlips oder Minirock bestehendes Personal bewegt sich beglückt durch aufgeweichte Büroetagen. Es ist, als hätte einen das reale Leben wieder, wenn man nach Überqueren der Bismarckstraße das alte Telefunkenhaus betritt. „Fuck, it’s closed“, steht an der Eingangstür zum Café „Tel Quel“ im Erdgeschoss. Das einstige Bürohaus wurde von der TU übernommen, seitdem ist hier das Institut für Kommunikations- und Geschichtswissenschaften ebenso zu Hause wie das Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts-und Technikgeschichte.

Die Gegend rund um den Ernst-Reuter-Platz bietet für diese Fächer konzentriertestes Material auf. Nach der Gründung des Vorläufers der TU, der Königlichen Technischen Hochschule 1879, entstand hier ein ausufernder Wissenstransfer zwischen technischer Forschung und ihrer Nutzung in Wirtschaft und Kriegstechnologie. Adolf Slaby, Universitätsdozent und enger Vertrauter Kaiser Wilhelms II, ließ Ende des 19. Jahrhunderts bei seinen ersten Versuchen, Nachrichten drahtlos zu übersenden, regelmäßig den Fernsprechverkehr Charlottenburgs zusammenbrechen. Wenig später, nachdem Slabys Funksystem patentiert und von der AEG übernommen wurde, gründeten Siemens und die AEG 1903 richtungsweisend für die Funktechnik im Kaiserreich das Unternehmen „Telefunken, Gesellschaft für drahtlose Telefonie“.

Der technische Aufschwung von einst scheint neben der Symbolfigur Ernst Reuter der einzige positive Bezugspunkt für anliegende Firmen zu sein. Als Reuter im September 1953 starb, geleitete ihn ein Trauerzug an die Stelle, wo heute die Verkehrsinsel liegt. Man erwies ihm die letzte Ehre. Inzwischen erinnert der Platz nicht nur an ihn, sondern auch an eine Zeit, die sich hoffnungsvoll in aufbrechenden Bewegungen manifestierte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen