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Leben im Innern des Eisbergs

Kristalline Strukturen des Alltags: Nina Jäckle hält in ihrem ersten Erzählband „Es gibt solche“ die Sprache auf Distanz

Irgendwann kalbt der Eisberg. Die Eisbergkälbchen ziehen klein, aber nicht weniger majestätisch weiter, und wenn sie eines Tages im Meer aufgegangen sind, dann ahnt man kaum noch etwas von dem Massiv, das sie geboren hat. Ein wenig verhält es sich so auch mit Nina Jäckles Erzählungen in ihrem Debüt „Es gibt solche“. Man schaut den fünf Miniaturen über alltägliche Dinge zu wie wandernden Eisbergen: hier eine Kindheitsepisode, dort eine beginnende oder eine zu Ende gehende Liebesgeschichte, schließlich das Gespräch in einer stecken gebliebenen U-Bahn.

Die vorüberziehenden Erzählungen bleiben auf Distanz und nehmen in ihrer Langsamkeit zunächst überhaupt nicht für sich ein. Sie lösen sich auf in viele kleinere Stückchen, von denen manche nur einen einzigen Satz lang sind: „Ein Kind weint.“ Oder: „Er nimmt den Schlüssel der Nachbarin, dann geht er in seine Wohnung zurück.“

Wen das Leben im Eis interessiert, der findet aufregende Dinge unter der schimmernden Oberfläche. Gewalt der Form, Kristallmuster und Eisblumen. Übersorgfältig gewirkte Strukturen. Geschichten, die schiefe Zweiheiten beschreiben, Baumhälften, Geschwisterpaare, Vater und Mutter, Nachbar und Nachbarin. Andere, die seitenlang unverständlich und unzusammenhängend bleiben, bis plötzlich aus statisch aneinander gesetzten Fragmenten eine Erzählung wird, die ganz normal durch die Zeit fließt. „Möglicherweise Tier“ gehört zu diesen Erzählungen. Statt eines Lichts am Baukran sieht die Protagonistin den nächtlichen Mond, statt des Flecks an der Badezimmerwand ein regloses Insekt. An der Seite der immer wieder Getäuschten geht ein Bekannter, der sich höflich mit ihr irrt – und irgendwann wird klar, dass sie ganz einfach sehbehindert ist. Ach so, denkt man dann. Oder: Aha. Der Neugier, die diese Geschichten entfachen, stehen Auflösungen gegenüber, die keine Frage mehr offen lassen; über das Ziel, dem angenehm verwirrten Leser Logik zu servieren, schießen sie weit hinaus. Trotzdem sind Nina Jäckles Storys interessant gemacht – auch weil sie im Gewand des Alltagseinerleis immer wieder Fragen an die Sprache selbst stellen: Wie war das noch mit der Wortverwandtschaft von „zählen“ und „erzählen“? Welche Alltagsphrasen mögen wir besondes gern? „Das wäre ja noch schöner“, sagt die kleine Kati, „aber mich wundert nichts mehr“, die Nachbarin der Familie in „Buchenhofstaffel“. Und wie funktioniert sprachlicher Rhythmus? „Ich gehe hinter ihm“, heißt es in „Möglicherweise Tier“ über einen Erblindeten, „höre das Klacken des Stocks, die ihm entgegenkommen, treten beiseite.“

„Warten“ ist die Erzählung, die dem Band seinen Titel gegeben hat. Erwartungsgemäß wird viel gewartet. Und beobachtet. „Es gibt solche, wie die Nachbarin eine ist“, heißt es dort zum Beispiel. Oder: „Es gibt solche, wie der Hausmeister einer ist.“ Eines Tages um „15 Uhr und 42 Minuten“ fällt der Hausmeister von der Leiter. Eigentlich ganz lebensnah. Den Namen des Hausmeisters erfährt man trotzdem nicht, und vielleicht ist diese kleine Szene mit ihrer sorgfältig hergestellten Distanz beispielhaft für die Atmosphäre, die Nina Jäckle in ihren ruhigen Geschichten schafft. Man schaut auf sie wie durch eine Wand aus Eis. Tief im Innern dieser Gebilde ahnt man Farbe und Geschmack.

CHRISTIANE TEWINKEL

Nina Jäckle: „Es gibt solche“. Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2002. 134 S., 16 €

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