piwik no script img

Jenni Zylka über Sex und LügenFenster zum Hof

Die im Dunkeln sieht man nicht oder Was man alles so vermutet, wenn durch den Hinterhof gestöhnt wird

Zwischen dem „Ummoummoummoummo“ eines nicht anspringenden alten BMWs und „One day I’ll know – why Samson loved Delilah“-Popgejammer, zwischen „Aannnneeeee!“-Rufen und dem Bellen eines sehr kleinen, bestimmt extrem stinkenden Hundes dräuen aus dem Hinterhof zwielichtige Geräusche an mein Ohr. Zuerst denke ich, eine Tür knatscht, aber dann erkenne ich den menschlichen Ursprung: Boah! Da stöhnen zwei! Oder mehr! Boah! Und wie! Da haben mindestens zwei Sex! Boah! Neid bzw. Neugier bzw. Kicherreiz.

Sofort wird das Fernglas geschnappt, das genau aus solchen Gründen auf der Fensterbank liegt. Fenster abschwenken: oberste Reihe dunkel, Fenster geschlossen. Dritter Stock: In der Küche redet der Bekloppte aus dem Vorderhaus mit seinen Blumen oder mit einem ganz kleinen Wesen, das vor den Blumen steht. Im Fenster seines Wohnzimmers daneben wie immer niemand, erst recht keine stöhnende Frau – Verrückte sind meistens einsam.

Als ich noch Thekenkraft in einer kleinen, dunklen Punk-Spelunke war, konnte ich Verrückte aus Metern Entfernung riechen, denn sie kamen und gingen stets allein in die Kneipe. Einmal hat mich allerdings einer genarrt: Er kam mit einem Freund, ich dachte, aha, kein Verrückter, aber plötzlich entpuppte sich der Freund als jemand, der nur zufällig zur selben Zeit den Laden betreten hatte, er verließ ihn sofort wieder, und der Übriggebliebene war doch ein Verrückter.

Aus der dem Verrückten gegenüber liegenden Wohnung kommen normalerweise die Aaaaaannnneeeee!-Rufe, die türkische Familie hat drei Kinder, und die lassen ihre Mutti gerne flitzen. Heute sitzen die Blagen am Küchentisch und benehmen sich wie gut gelaunte, antiautoritäre 70er-Kinder aus einem alten „Sesamstraßen“-Sketch: Sie trommeln auf der Platte herum, wackeln hin und her und amüsieren sich bestens. Die Mutter sehe ich nicht, aber ob sie im Nebenzimmer liegt und stöhnt, während ihre Kinder in der Küche horchen? Der Vater sitzt jedenfalls im Wohnzimmer und ist in Trance. Wahrscheinlich guckt er fern.

Darunter lebt ein fleißiger Student, der entweder eine lebensgroße Puppe an seinem Computer sitzen hat, damit öfter mal mit dem Fernglas herüberspannende Faulpelze wie ich ein schlechtes Gewissen kriegen, oder tatsächlich seinen Doktor macht. Vielleicht ist er aber auch nur extrem schwer von Kapee. Oder internetsüchtig.

Daneben wohnt ein Pärchen ohne Kinder, aber mit dem kleinen, bestimmt extrem stinkenden Hund. So ein Langzeitpärchen, sehe die beiden immer nur andere Langzeitpärchen zum gemeinsamen Kochen einladen, kann mir kaum vorstellen, dass plötzlich noch mal Schwung in die Bude kommt, aber nun gut, wer weiß, vielleicht hat ja einer von ihnen etwas Neues ausprobiert, Piercings, Tantra, Perücken, Stripschule. Doch auch dort sind die Fenster dunkel. Nur die Töle kläfft.

Dann bleibt nur noch der Zeitungskiosk im Erdgeschoss, der hat natürlich schon zu, und die Mitwohnzentrale daneben. Das Stöhnen dauert an, ich muss an die WG-Hörspiele denken, die der gut aussehende und schweigsame Mitbewohner einer meiner alten Münsteraner Freunde uns früher immer bot, mein alter Freund lud manchmal extra ein paar Leute ein, und wir setzten uns auf das Bett, waren mucksmäuschenstill, tranken Bier, warteten ein wenig, und spätestens nach 22 Uhr fing der schweigsame Mitbewohner an, sich mit seiner Freundin zu streiten, einer potenziellen Sopranistin mit sehr durchdringender Stimme. (forte:) „Aber du hast gesagt, wir würden das heute noch machen!!! …“ – (piano:) „Grummelgrummelgrummel.“ – „Aber wir hatten das doch abgesprochen!!!!“ – „Grummelgrummelgrummel.“ – „Aber ich …“ – „Grummelgrummelstöhn.“ – „Oh, na, ah, ah, ah!!“ Dann prosteten wir uns alle zu und gingen voll Hoffnung in die Nacht hinaus.

Jedoch wer stöhnt heute? Ich muss noch einmal rekapitulieren: Der Verrückte scheidet aus, das Pärchen ist weg, der Student studiert … der Student studiert? Und wenn es doch nur eine Puppe ist, und im Nebenzimmer liegt er auf einer schnuckeligen Kommilitonin und versucht, mich zu veräppeln? Ha, der Schlingel! Da bewegt sich die Puppe hinter den durchsichtigen Jalousien, sie steht auf und fasst sich ins Haar. Na gut. Dann bleibt nur noch die türkische Mutti. Oder in der Mitwohnzentrale werden abends Pornos synchronisiert.

Das Stöhnen ist vorbei. In der Langzeitpärchenwohnung geht das Licht an. Ich sehe eine offenkundig leicht bekleidete Gestalt, die in die Küche geht und dem Köter einen Napf hinstellt. Also nein! Bin beeindruckt, uiuiui, da geht anscheinend doch einiges: Sex im Dunkeln, zu Hundegebell, ganz was Neues, das scheint als Aphrodisiakum zu reichen. Boah. Ach, mach dich nur lustig, muss ich mich plötzlich schelten, immerhin haben die etwas Besseres zu tun, als den ganzen Abend die Nachbarschaft zu bespitzeln. Ich glaube, ich kaufe mir auch einen kleinen Hund.

Fragen zu Sex & Lügen?kolumne@taz.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen