: Freiheit strengt an
Ihn interessiert vor allem, was in den Lücken zwischen Bild und Ton passiert, zwischen öffentlichem und privatem Raum: Ein Porträt des in Berlin lebenden israelischen Künstlers Eran Schaerf, der ein Meister der permanenten Kontextverschiebung ist
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Museumswächter und Garderobieren sind normalerweise nicht mit den Kunstwerken zu verwechseln. Etwas komplizierter wurde ihre Unterscheidung in dem Projekt „Jeder Gang ein Défilé“, das Eran Schaerf 2001 für die Ausstellung „Untragbar. Mode als Skulptur“ im Kölner Museum für Angewandte Kunst entwickelt hat. Er bat die Angestellten des Museums um Hosen, Jacken, Röcke und Kleider aus ihrem persönlichen Besitz. Diese gab er als Schnittmuster in die Siemens-Schneiderei, um sie aus Stoffen für Berufskleidung nachnähen zu lassen. Das Ergebnis waren Kostüme, die an Uniformen und standardisierte Arbeitskleidung erinnerten, aber dennoch wahrnehmbar anders waren. Zwischen dem subjektiven Ausdruck des Individuums und der primären Betonung seiner Funktion in der Arbeitskleidung veränderten sie die Wahrnehmung der Museumsarbeiter. Eine prächtigere Verschiebung zwischen den Bereichen Programm und Personal in einem Museum hat es wohl noch nicht gegeben. Das war praktisch angewandte Kontextverschiebung.
Eran Schaerf, 1962 in Tel Aviv geboren, lebt heute in Berlin und Brüssel und lehrt in Hamburg und Maastricht. Sinnzusammenhänge und Analogien der Form wandern in seinen Ausstellungen, Filmen und Hörtexten durch die beteiligten Elemente: Sprache, Fotografien, Kleider. Ihn interessiert, was in den Lücken zwischen Bild und Ton passiert, zwischen öffentlichem und privatem Raum.
Ein Dresscode kann manchmal überlebenswichtig sein: In den Räumen seiner aktuellen Ausstellung „some time later“ im Neuen Berliner Kunstverein treten Sondereinheiten der israelischen Armee auf, die sich als Palästinenser verkleidet haben und Fotomodells, die den Look von Attentätern imitieren. Die einen sind in einem Schaukasten zu sehen, von den anderen hört man in einem Hörspiel, das von der Stimme eines Nachrichtensprechers vorgetragen wird und wiederum fiktive Szenarien in das Format von Fakten überträgt. Fortgesetzt wird der Tausch der Sprachen in der Musik: In zwei Räumen hört man ein Lied von Om Kalthoum, der berühmtesten Sängerin der arabischen Welt, von ihr selbst und einer israelischen Interpretin gesungen.
1990 kam Eran Schaerf als Stipendiat des Künstlerhaus Bethanien nach Berlin. Damals verschickte er Einladungskarten, deren unterschiedliche Texte die Rhetorik des Kunstbetriebs genau nachahmten. Sie luden zum Beispiel ein zu „Frauen Fotoart / Aus West Brasilien / Tote Sprache Verlag / Im Grünen Saal / Sonntag 14 bis 16 Uhr“ oder zu „Südmongolischen Minimalisten vor 1945“ im „Indischen Kunstverein“. Keinen der Veranstaltungsorte gab es; aber indem man als Adressat der Karten über das Unwahrscheinliche der erfundenen Institutionen nachdachte, wurden die Ränder des Kunstbetriebs sichtbar.
Die Installation „Schneider und Sohn, längen, kürzen, Rosen“ (1991/93) war ein sich ständig änderndes Environment aus Rosenmustern auf Stoffen und Papieren, alten Pelzen, Fotografien, Zeichnungen, Kleiderbügeln und Bügelbrett. Verschiedene Kriterien der Ordnung ließen sich in diesem Sammelsurium ausmachen: Es gab Verbindungen durch Farben, Muster oder Funktionen. Das älteste Stück der Sammlung, eine rotgelbe Lipton-Tea-Schachtel, hatte Schaerfs Familie in Israel in den Fünfzigern mit einem amerikanischen Carepaket erhalten. In ihr wurden Fotos aufbewahrt.
Spurensuche, Erinnerungsarbeit, persönliche Mythologien: So sehr sich Schaerf innerhalb dieser Konzepte bewegt, sucht er doch auch Distanz dazu. Während des Aufbaus im NBK fuhr er jeden Morgen an einem Plakat der jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße vorbei: „Berliner Juden für Israel“. Er ärgerte sich über die vereinfachte Konstruktion einer Identität. In Berlin begann die große Debatte über das Denkmal, das an die Vernichtung der europäischen Juden erinnern soll, in der Zeit, als Schaerf an „Schneider und Sohn“ arbeitete. In seinem ersten Hörspiel, das aus der Performance anlässlich einer Ausstellungseröffnung hervorging, erzählt eine der Figuren: „Meine Familie war mit Stoffen gut im Geschäft und lebte im Geist der Geschäftsleute. Das Geschäftsverbot hat sie ihrer Geschäftigkeit enteignet. Aber den Geist? Selbst als ihr das Geschäft verboten wurde, ich meine, als sie gesellschaftlich tot gestellt wurde, wann hätte sie den Geist aufgeben sollen?“ Diese Sätze verweigern sich der Rolle des Opfers und einer professionellen Gedenkattitüde, die sich über den Umgang mit dem Holocaust gelegt hat.
Dennoch bildet die Erfahrung, die Selbstverständlichkeit einer Kultur und einer Sprache, in die man hineingeboren ist, verlassen zu haben, einen Hintergrund der permanenten Kontextverschiebung. Das Inventar von Schaerfs Installationen lässt sich immer auf unterschiedliche Bedeutungsräume beziehen, und in der Uneindeutigkeit der Zugehörigkeit, in der Unklarheit über die Grenze zwischen den einzelnen Räumen spiegelt sich die Erfahrung einer politischen Situation: aus einem Land zu kommen, dessen Grenzen nicht markiert sind.
Im NBK hat Schaerf quer zur Öffnung zwischen den Räumen eine Mauer gestellt, die alte Verbindungen versperrt und neue Übergänge markiert. Viele Arbeiten Schaerfs thematisieren auch den öffentlichen Raum: in Form von Zeitungen oder TV- und Rundfunkformaten. „Ich hänge an der Fiktion eines öffentlichen Raums“, sagt Schaerf. Diese Räume lassen sich nicht mehr topografisch lokalisieren, sondern werden durch die Teilnehmer definiert, und das ist zugleich ihr Geheimnis. „Niemand kennt die Hörer eines Hörspiels, die Leser einer Zeitung.“
Die Sprache hat große Bedeutung für die Organisation des Materials bei Eran Schaerf. Alles geht bei ihm durch die Sprache hindurch, und einiges verändert sich dabei. Vielleicht gilt er deshalb als ein komplizierter Künstler. Wer sich mit seinem Material beschäftigt, erhält mehr Angebote der Verknüpfung, als man in einer linearen Logik unterbringen kann. Das fordert dem Betrachter Entscheidungen ab. Freiheit aber strengt immer an.
„Some time later“. Bis 13. 10., NBK, Chausseestr. 128/129, Mitte, Di.–Fr. 12–18 Uhr, Sa./So. 12–16 Uhr
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