Die Duldsamkeit des Brotes

Unentschlossen, durchsichtig, konzeptarm, fast schlicht: Die japanische Gruppe DA-M mit dem Erinnerung auslöschenden Stück „When They Stopped To Eat Tomato“ auf Kampnagel

von MARGA WOLFF

Mit erhobenen Armen, in jeder Hand eine Baguettestange, rennt eine Frau hinter einer Wand hervor auf das Publikum zu. Kurz vor der ersten Sitzreihe angelangt, schlägt sie die Brotlaiber mit Wucht auf den Boden und den eigenen Leib gleich mit. Die Aktion wiederholt sie, bis weitere Frauen und ein Mann sich an dem versprengt ausgebreiteten Lebensmittel zu schaffen machen. Eine andere Frau erscheint in Schürze und Servierhäubchen, eine Stange Brot zwischen den Zähnen, und versucht einen Zuschauer zum Biss in die andere Seite zu animieren.

In die über die Szenerie gelegte Klangcollage mischt sich ein französischer Chanson. Eine plumpe Persiflage auf frankophiles Lebensgefühl, mag man vielleicht glauben. Nur, was hat dies in einem japanischen Bewegungstheaterstück zu suchen, das sich um Erinnerung dreht, das versucht, der Unfassbarkeit von Hiroshima oder auch dem 11. September eine Sprache zu geben? Mit der Interpretation der theatralen Aktionen der Gruppe DA-M aus Tokio, die beim Laokoon Festival auf Kampnagel ihr Stück When They Stopped To Eat Tomato präsentierte, ist das so eine Sache. Der Name der Gruppe sei ein geheimer Code, und der Titel habe keinerlei Verbindung zum Inhalt, verrät der Programmzettel. Das ist nicht viel und wirkt dazu noch ziemlich einfältig.

Vor dem Hintergrund von Hidenaga Otoris Laokoon-Motto „Geschichte und Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung“ vermitteln die Akteure der japanischen Gruppe DA-M den Eindruck, als gelte es für sie, alle Erinnerung auszulöschen und bei null neu zu beginnen. Selbst das Gehen funktioniert nicht reibungslos. Mit leerem Blick, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, stolpern die Darsteller von einem Schritt in den nächsten. Mit weichen Knien gehen sie zu Boden, legen das Ohr an die Erde, als könnte dort drinnen die Wahrheit lauern. Batterien von Neonröhren tauchen den Bühnenraum in raffiniert wechselndes Licht, das die Zuschauerränge mit einbezieht.

So entsteht jene informelle , offene Situation, die Regisseur Hiroshi Ohashi für sein Theater beansprucht. Denn die Gruppe DA-M setzt auf die Improvisation, auf den Zerfall von Bewegung und Tönen. Fragmente von Gesten und Schritten stellen die Darsteller in diesen Raum, der Musiker Kenichi Takeda schickt live am Keyboard produzierte schrille Klangfetzen herüber.

Doch mündet die anfängliche Unverbindlichkeit schnell in ermüdenden Leerlauf. Es fehlt den Darstellern an Inspiration und an Repertoire, die Fäden in der Hand zu behalten, sie gar weiterzuspinnen, in die Phantasie der Zuschauer hinein. In der Peripherie des Raumes, abseits des zentral umrissenen Bühnenrechtecks, verliert man sie glatt aus den Augen.

Die Akteure sind keine Tänzer, um Tanztechnik geht es hier auch nicht, aber um Sensibilität und Erfahrung. Die wohl beabsichtigte Diffusion von abstrakter und konkreter Gestik wirkt nur unbeholfen, die Kommunikation unentschlossen oder zu durchsichtig. Irgendwie ist diese Aufführung weder Fisch noch Fleisch. Und Ohashi, ein erfahrerener Theatermann zwar, der mit Raum und Licht umzugehen versteht, verrät dazu noch sein eigenes Konzept. Dann baut er spektakuläre Posen ein, wie man sie von Fotos von flüchtenden, verletzten Menschen kennt. Aufgebläht mit Pathos wirkt das schon fast abgeschmackt. Die skurrile Baguette-Szene ist da fast noch originell, wenn sie auch die Wucht und anschließende Leere von Ereignissen wie dem Atombombenabwurf höchst seltsam beantwortet.

Was bleibt, ist ein Schlachtfeld von Brot und Mehlstaub. Aufräumarbeiten leiten den dritten Teil ein. Und wie da schließlich ein Haufen geknickter Stangen am Stahlfeiler lehnt, wirkt diese Duldsamkeit des Brotes als trotz allem unverwüstlichem Kulturgut recht tröstlich. Doch Ironie mag man angesichts der Ernsthaftigkeit des Themas und auch der Eindimensionalität des Stücks hier nicht unterstellen.

Hidenaga Otori hält nicht viel vom japanischen Theater. Das hat er des Öfteren betont. Warum er dann ausgerechnet aus seinem Heimatland eine Gruppe einlädt, die ein amerikanisches Konzept der Tanzimprovisation schlecht kopiert, bleibt, wie die Aufführung selbst, ein Rätsel.