100 Prinzessinnen im Kopf

Bildungskarrieren beginnen mit dem Bilderbuch. Stiftung Lesen will Vorlesepaten für Kindergärten gewinnen. CDU-Frauen-Union wirbt in Hamburg TeilnehmerInnen an

„Mit fünf bis acht ist das Fenster für Sprachentwicklung geschlossen“

von KAIJA KUTTER

Die Idee hat Charme. Die Antiquitätenhändlerin Herlit Baetzner und die Vorsitzende der Frauen-Union, Marita Meyer-Kainer, wollen in Hamburg nach dem Schneeballsystem ehrenamtliche „Vorlesepaten“ ausbilden und in Kindergärten schicken. Den Anfang soll eine Gruppe von zehn Damen aus dem Umkreis der CDU-Frauen machen, die sich auf einem Wochenendseminar von der „Stiftung Lesen“ zu Vorlesepaten qualifizieren wollen. Perspektivisch will Baetzner auch „rüstige Alte“ aus Seniorenheimen als Vorleser für Kitas gewinnen und so „zwei Randgruppen“ zusammenbringen.

„Viele Kinder kommen in den Kindergarten, ohne je ein Buch gesehen zu haben“, berichtet Professor Klaus Ring von der Mainzer Stiftung, die bundesweit bereits 2000 dieser Paten gewonnen hat. Denn eine Untersuchung der Stiftung belege, dass zu Hause immer seltener vorgelesen wird und sich Eltern auch immer weniger darum kümmern, ob und was ihre Kinder selber lesen. Lesekompetenz, jene Fähigkeit, die in der Pisa-Studie abgefragt wurde und in der Deutschland so schlecht abschnitt, bildet sich jedoch in den ersten Lebensjahren. Ring spricht von Fähigkeiten, deren Entwicklung durch „biologische Uhren“ gesteuert werden. So sei die Entwicklung des Sprachvermögens eines Kindes mit fünf bis acht Jahren abgeschlossen. „Neurale Strukturen, die bis dahin nicht aufgebaut wurden, werden später fehlen.“ Analog sei das Entwicklungsfenster für das Lesen mit 12 bis 15 Jahren wieder zu. Was in diesem Alter nicht gelernt wurde, lässt sich später nur mühsam nachholen.

Entscheidend beim Vorlesen und Erzählen von Geschichten ist die Entwicklung eines bildhaften Vorstellungsvermögens. Ring: „Wenn 100 Kinder die Geschichte von einer Prinzessin hören, entwickeln sich in ihren Köpfen 100 verschiedene Bilder einer Prinzessin. Sehen sie die auf dem Bildschirm, entsteht hingegen 100mal das gleiche Bild“. Die Folge sei ein Verlust an Kreativität und Phantasie. Bücher erlaubten den Kindern aber auch, sich mit Figuren zu identifizieren oder in skurrile Welten wie die einer Pippi Langstrumpf einzutauchen. Welten, in denen Eltern ihnen nie erlauben würden, sich zu bewegen.

Nun sollte man aber nicht glauben, dass es in Kindergärten keine Bücher gibt und Erzieherinnen nie vorlesen. Doch die Kindergärten allein, so ist Ring überzeugt, seien mangels Zeit, Ausstattung und Qualifikation nicht in der Lage, die Defizite auszugleichen. Die „Stiftung Lesen“ setzt deshalb auf Fortbildung der Erzieherinnen und hat die gute Idee der Kindergartenbibliothek entwickelt. Erzieherinnen bringen den Kindern Bücher nahe, erlauben ihnen sogar, ihre Lieblingsexemplare mit nach Hause zu nehmen – und die Kinder erziehen auf diese Weise ihre Eltern zum Vorlesen. Ring fordert deshalb für jeden Kindergarten eine eigene kleine Leihbibliothek. Ebenfalls anregend soll auch eine eigens entwickelte „Wartezimmerbibliothek“ wirken, die bisher in 1500 Kinderarztpraxen eingerichtet.

Die Idee der Vorlesepaten wurde vor anderthalb Jahren in einem Essener Pilotprojekt mit über 100 Teilnehmern erprobt. Inzwischen, so Ring, würde es auch in Hessen und in Rheinland-Pfalz gestartet. Die Aktion zielt auf die Generation der Älteren ab, von denen viele „ein gewisses Ethos“ haben und ihre Aufgabe sehr zuverlässig erfüllten. „Die Kinder freuen sich richtig und warten, dass der Vorleser kommt und es schön wird.“

Hedi Colberg-Schrader von der Vereinigung der Hamburger Kindertagesstätten begrüßt die Idee. „Regelmäßig vorlesen ist für Kinder in jedem Fall eine wichtige Sache und gehört in Kitas eigentlich dazu“, sagt die pädagogische Leiterin. Wenn zusätzlich Menschen in die Kitas kämen, ermögliche das, in kleinen Gruppen vorzulesen. Zum Teil sei das durchaus schon üblich, auch von Müttern anderer Herkunftssprache. Colberg-Schrader: „Da ensteht eine Athmosphäre wie bei Großmutter zu Hause. Das ist für die Kinder eine schöne Situation.“ Doch sie warnt: Das könne die nötige Sprachförderung nicht ersetzen.

Vielleicht ist diese Sorge der Grund dafür, dass die Paten-Idee bisher nur in FDP- und CDU-regierten Bundesländern Anklang fand. „Wir sind parteipolitisch absolut ungebunden. Nächste Woche halte ich einen Vortrag bei den Grünen“, betont Klaus Ring. Wer Kindern vorlesen möchte, aber nicht unter der Regie der Frauen-Union, kann sich auch direkt an die „Stiftung Lesen“ werden.