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Der Sommer des Chamäleons

taz-Sommerroman (15). Über den heißesten Fall des unglaublich ausgebufften Privatdetektivs J. Player. Von T.Ingold

„Kommen Sie, John‘‘, sagte Ilse.„Lassen Sie uns eine Bombe bauen. Aber eine große Bombe!“

Was bisher geschah (heute erzählt von Wilhelm Grimm, Märchenonkel): „Es war einmal ein Chamäleon namens Rama, das lebte glücklich und zufrieden in seinem Terrarium. Doch eines Tages kam ein Räuber des Weges und stahl das Tier. Das Frauchen von Rama, die schöne Prinzessin Ilse, weinte gar bitterlich. Der junge Prinz Johannes hörte von ihrem Unglück. Er reiste zu der Prinzessin und verliebte sich auf der Stelle in das holde Wesen. Johannes machte sich auf die Suche nach dem Chamäleon und musste auf seinem Weg schwere Prüfungen bestehen, bis er eines Tages erfuhr, dass ein böser Fürst Rama in seiner Festung gefangen hielt. Gemeinsam mit der Prinzessin machte Prinz Johannes sich daran, den bösen Fürsten zu besiegen und das Chamäleon zu befreien. Aber der böse Fürst war ganz schön auf Zack ...“

Ich fuhr mit dem Stapler durch die Gänge und verteilte die kleinen Rucksäcke an Stellen, die uns später nicht den Fluchtweg versperren würden. In Gedanken war ich bei Ilse. Immerhin waren wir seit einigen Tagen nicht länger als ein paar Minuten getrennt gewesen. Nun sollten es immerhin etwa zwanzig Minuten sein. Ich wusste, dass sie ihre Sache gut machen würde, und hatte gleichzeitig dieses fluffige, rosafarbene Gefühl im Bauch. Als ich alle meine Rucksäcke verteilt hatte, zeigte mein Piloten-Chronometer 12 Uhr 21 an.

Um 12 Uhr 25 drückte ich den Knopf auf der Fernsteuerung. Ohrenbetäubender Explosionslärm grollte durch die Gänge und Hallen. Mit kaum mehr als einer Sekunde Abstand gingen die drei Gruppen aus jeweils etwa sieben Rucksäcken hoch und ließen den Boden und die Wände erzittern. Gesteinsbrocken flogen durch die Luft, Erde spritzte, die Maschinen der Fertigungsstraße, in die ich einen Großteil meiner Bomben gesteckt hatte, wurden zerrissen und umhergeschleudert. Dann hörte ich Ilses Stimme über die Lautsprecher: „Alarmstufe Rot! Alarmstufe Rot! Es haben sich mehrere schwere Explosionen ereignet. Die gesamte Anlage ist sofort zu evakuieren. Es besteht höchste Einsturzgefahr. Bitte bewahren Sie Ruhe und benutzen Sie die ausgeschilderten Fluchtwege. Ich wiederhole: Alarmstufe ...“

Ilses Stimme brach ab. Dann hörte ich einen halb erstickten Aufschrei und darauf ein heftiges Knacken in den Lautsprechern. Was war geschehen? Ich startete den Stapler und raste zum Turm der Sprechanlage. In all dem Tumult fiel ich überhaupt nicht auf. Alles wuselte umher und versuchte irgendwie – zu Fuß, mit den Fahrzeugen – zu den großen Lastenaufzügen zu gelangen, die an die Oberfläche führten. Von weitem sah ich schon, wie Ilse hinter dem Glas der Sprecherkabine mit Dr. Frank rang.

Dieser Schweinepriester! Ohne zu zögern rammte ich den Turm – eine hochbeinige Konstruktion aus gekreuzten Stahlträgern, die einem Hochspannungsmast ähnelte – frontal mit dem Stapler. Der Turm neigte sich und fiel beinahe sanft auf den Berg aus Stabhochsprungmatten. Mit der Gabel hob ich den Turm von den Matten und legte ihn auf dem Boden ab. Dann schnappte ich mir das Sturmgewehr und ließ mich vom Sitz gleiten. Es war schwer, mit den eingegipsten Beinen zu laufen - etwa so wie mit Bleistiefeln - und zudem tat es höllisch weh. „Ilse!“, rief ich, „Ilse! Sind Sie in Ordnung?“

Das Glas der Sprecherkabine splitterte. Dann hechtete Ilse heraus und rollte perfekt ab. „Müssen Sie mir einen solchen Schrecken einjagen, John?“, fragte sie, während sie sich den Staub vom Kostüm klopfte. „Mit diesem Hänfling wäre ich auch im Halbschlaf fertig geworden. Aber der Gedanke zählt“, sagte sie und schenkte mir ein freundliches Lächeln. Ich warf durch das zerbrochene Fenster einen Blick in die Kabine und sah Dr. Frank am Boden liegen. Auf seinem Kopf leuchtete eine große violette Beule und sein Gesicht sah aus wie das von Sylvester Stallone nach dem Endkampf in Rocky II. „Kommen Sie, John‘‘, sagte Ilse, „lassen Sie uns eine Bombe bauen. Aber eine große Bombe!“

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