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09/11: SpanienGedenken nach Mitternacht

„Ein Anschlag. Das ist ein Anschlag!“ 15:14 Uhr europäischer Zeit, 9:14 Uhr in New York: Gerade war das zweite Flugzeug gegen das World Trade Center gekracht. Und Spanien war live dabei. In keinem Land in der EU haben so viele Menschen die Tragödie am Bildschirm verfolgt wie in Spanien. Denn keine Kneipe, keine Küche, kein Speisesaal, wo nicht mittags um drei Uhr die erste Ausgabe der Nachrichten im staatlichen Fernsehen TVE läuft.

An die Worte, die am 11. 9. 2001 die Menschen endgültig das Mittagessen vergessen ließen, genau an diesen Schock wurde am Jahrestag angeknüpft. Doch anders als vor einem Jahr wurden die Sonderprogramme – bis auf wenige Ausnahmen – nicht zur abendlichen Primetime gesendet. Das hat zwei Gründe. Zum einen hat die seit über zehn Jahren bestehende Konkurrenz zwischen staatlichem und privatem Fernsehen zu einem Wettkampf bei der Programmgestaltung geführt. Wer bringt noch mehr „telebasura“ – „Fernsehmüll“ – heißt die Devise. Fast alle Sendeplätze für politische Programme, Dokumentarfilme und Reportagen fielen dem Wettlauf der Verblödung zum Opfer. Zum anderen fürchteten die Sender um ihre Werbeeinnahmen. Wer will schon sein Parfüm oder seine Pkws zwischen einstürzenden Hochhäusern anpreisen? So wurden die Gedenksendungen fast ausnahmslos nach Mitternacht gezeigt. Nur kurze Augenzeugenberichte von ein bis zwei Minuten Länge wurden in die Nachrichten eingestreut. Die Tragödie verkam so zum Videoclip. Nur das Programm des staatlichen Fernsehens traute sich in die Primetime, zeigte einen von Arte produzierten Themenabend sowie eigene Reportagen. Der Privatsender Antena 3 verzichtete dafür ganz auf zusätzliche Berichterstattung.

Und auch die Tageszeitungen taten es dem Fernsehen gleich: In den Wochenendbeilagen vor dem 11. September wurden bisher in Spanien unveröffentlichte Amateurfotos gedruckt, untermalt von Augenzeugenberichten. Die größte spanische Tageszeitung El País widmete eine mehrtägige Serie den spanischen Ermittlungen gegen al-Qaida. Die Ermittler glauben: Spanien ist Ruheland für die Zellen sowie den Finanzapparat von al-Qaida und zugleich der Brückenkopf der arabischen Welt in Europa. Zehn mutmaßliche Mitglieder des Terrornetzwerkes wurden hier bereits im letzten Jahr festgenommen.

Spanien bemühte sich schnell, als zuverlässiger Partner im Kampf gegen den Terror zu gelten. Nicht ganz uneigennützig. Schließlich operiert auf der iberischen Halbinsel die baskische ETA. Der 11. September rückte auch sie wieder ins internationale Bewusstsein. So wurde der von Madrid seit Jahren geforderte europäische Haftbefehl endlich unter dem Eindruck der Anschläge von New York verabschiedet. Die Grundhaltung seit dem 11. September ist denkbar einfach: „In Spanien wissen wir schon lange, was Terrorismus ist.“

Wer solche Gleichsetzungen zwischen al-Qaida und ETA nicht mitmachen will, der wird als Abtrünniger beschimpft. So geschehen in der zweitgrößten spanischen Tageszeitung ABC in einem Artikel über die „bedauernswerte Korrespondentin“ der New York Times in Madrid. Das Vergehen von Emma Dally: Sie schreibt „von bewaffneten Separatistenorganisationen“, wenn sie von der Gewalt der Basken spricht – selbstverständlich ohne die Anschläge gutzuheißen. „Ich frage mich, was würden die Verleger der Zeitung und ihre aseptische Korrespondentin in Madrid sagen, wenn diejenigen, die die Schlächterei in den Zwillingstürmen verursacht haben, als Mitglieder einer ‚mit Flugzeugen versehenen religiösen Organisation‘ bezeichnet würden“, heißt es in der ABC.

REINER WANDLER

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