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Flucht in die Vergangenheit

Auf dem 44. Deutschen Historikertag in Halle mühten sich die Geschichtsforscher nach Kräften, ihre Kompetenz vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Zur Debatte über die Themen der Gegenwart – Krieg, Terror oder den 11. September – fühlten sich die versammelten Professoren „nicht primär berufen“

Der heimliche Schwerpunkt war die Geschichte der Migration

von RALPH BOLLMANN

Die Historiker hätten es nicht besser treffen können. Ihr großer Fachkongress, der nur alle zwei Jahre stattfindet und daher lange vor dem 11. September 2001 geplant war, fiel just auf den ersten Jahrestag des weltgeschichtlichen Ereignisses. Ein ganzes Jahr lang hatten die Historiker also Zeit, um ihre geballte Kompetenz in Fragen von kulturellem Austausch und militärischem Konflikt unter Beweis zu stellen, ihren Sachverstand zu Amerika, Nahost oder Islam zu demonstrieren. Welch eine schöne Gelegenheit, der Öffentlichkeit in Zeiten von Haushaltsnot und Stellenkürzungen zu zeigen: Seht her, ihr braucht uns, wir sind wichtig!

Nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus bewusstem Trotz haben die deutschen Historiker diese Chance ausgeschlagen. Ihr Verbandspräsident Manfred Hildermeier erklärte auf dem Kongress in Halle, die Geschichtswissenschaft sei „nicht primär berufen“, sich mit den Ursachen und Folgen des 11. September zu beschäftigen. In dieser Einschätzung sahen sich viele der anwesenden Historiker durch das Interview ihres Bielefelder Kollegen Hans-Ulrich Wehler bestätigt, der am Eröffnungstag in der taz „das Türkenproblem“ beklagt hatte. Nur widerwillig und in letzter Minute hoben die Organisatoren eine Diskussionsrunde zu Ursachen und Folgen des Terrors ins Programm – um „nicht den Anschein zu erwecken, als wollten wir dem Problem ausweichen“, wie Hildermeier erklärte. Ein Jahr sei einfach nicht genug Zeit, „so kurzfristig können Historiker gar nicht arbeiten“.

Statt zu zeigen, was Historiker können, erläuterte Hildermeier lieber ausführlich, was sie nicht können. Dass es in Deutschland praktisch keine Experten für die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens gibt, führte er auf die finanzielle Not der Universitäten zurück. „Wir schrumpfen immer mehr zusammen auf den mitteleuropäischen Kernbereich und die deutsche Geschichte“, klagte der Göttinger Russlandkenner in mehreren Interviews – als hätte ein Historiker in der Bundesrepublik jemals Karriere machen können, ohne sich mit deutscher Geschichte zu beschäftigen. Allein Osteuropa oder Nordamerika konnten sich als Nischen etablieren.

Der defensive Grundton zog sich durch den ganzen 44. Deutschen Historikertag, der am Freitagabend zu Ende ging. Das Fach, während der Geschichtskonjunktur der Achtziger und frühen Neunziger unbestrittene Königsdisziplin der Geisteswissenschaften, hat an Glanz eingebüßt. Der Bedarf an Identität oder „Sinnstiftung“ ist vorerst gestillt – und die nachwachsende Historikergeneration ist ihrerseits kaum noch gewillt, sich bei der Wahl von Themen oder Fragestellungen an der öffentlichen Nachfrage zu orientieren.

Dabei ist es gar nicht so, dass die Historiker zur Debatte über die großen Fragen der Zeit nichts beizutragen hätten. So geriet die Geschichte von Einwanderung, Auswanderung und Kulturkontakt schon fast zu einem heimlichen Schwerpunkt der Tagung – vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, von den Einwanderern in Amerika bis zur Rückkehr deutscher Emigranten nach dem Krieg. Auf die aktuelle Debatten über Neoliberalismus und Sozialstaat bezogen sich Beiträge zur „historischen Natur des Marktes“ oder zum Sozialstaat als „europäischem Modell für die Welt“.

Was sich hinter solch wohlklingenden Überschriften dann verbarg, erfüllte die geweckten Erwartungen allerdings nur selten. Viele der vortragenden Historiker erwiesen sich als unfähig oder unwillig, ihre Themen angemessen zu präsentieren. Allzu oft lasen sie in monotoner Diktion Vorträge vom Blatt ab, denen es an thesenhafter Zuspitzung oder einer pointierten Fragestellung entschieden fehlte. Selbst bei der Debatte über den 11. September hielt jeder Diskutant zunächst ein zehnminütiges Eingangsreferat – mit der Folge, dass die erste Stunde der „Diskussion“ schon vorbei war, bevor das erste Wortgefecht überhaupt stattgefunden hatte.

Die meisten Großhistoriker der älteren Generation hatten es vorgezogen, entweder gar nicht oder nur als Zuhörer nach Halle an der Saale zu reisen – und ihre Meinung zum 11. September und dem drohendem Irakkrieg über die Medien zu Protokoll zu geben. Der Kongress selbst wurde von jenen 280 Privatdozenten dominiert, die nach den Zahlen des Historikerverbands um jährlich rund 30 frei werdende Professorenstellen konkurrieren. Eine menschlich bewegende, aber an konkreten Ergebnissen arme Debatte über ihr Schicksal gehört schon seit dem vorigen Kongress in Aachen zum festen Repertoire der Historikertage.

So blieb es ausgerechnet den Redenschreibern des Bundespräsidenten überlassen, weiterführende Fragen zu formulieren. Was bedeutet unsere neue Selbstdefinition als Einwanderungsland, fragte Johannes Rau in seiner Eröffnungsrede, eigentlich für unser Geschichtsbild? Müssen Neubürger die Verantwortung für Auschwitz übernehmen, um Deutsche werden zu können? Dass die Historiker darauf noch keine Antworten wissen, wollte ihnen der Präsident ausdrücklich nicht vorwerfen. Dass sie sich für derart grundsätzliche Fragen kaum noch interessieren, konnte er sich wohl gar nicht vorstellen.

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