: berliner szenen Wahlkämpfer der Träume
Friede seiner Asche
Sehr viel mit dem Klassenkampf hatte C. eigentlich nie am Hut. Arbeitet als Creative Writer bei DaimlerChrysler, wohnt bürgerlich in ruhiger Schöneberg-Lage, seine Freundin sammelt Hölderlin-Erstausgaben. Deswegen war ich doch ein wenig erstaunt, als ich vergangene Woche in seinem Bücherregal die blauen Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe stehen sah. Auf meinen fragenden Blick zuckte C.s Freundin vielsagend mit den Schultern und verschwand mit einem Studiosus-Katalog in der Küche.
C. hatte also mal wieder schlecht geträumt. Diesmal war ihm sein Großvater im Schlaf erschienen, Friede seiner Asche. Der längst Verblichene hatte ihn glatt überreden wollen, am 22. September sein Kreuz beim Direktkandidaten der CDU zu machen. Und im Unterlassungsfall mit schlimmsten Konsequenzen gedroht. „Aber ich hatte ja schon längst Briefwahl gemacht und Ströbele gewählt!“
Am nächsten Morgen riefen C.s Eltern an: Starke Regenfälle hatten den heimatlichen Keller überflutet, die unbezahlbare Sammlung von Lustigen Taschenbüchern (natürlich alles Erstausgaben) war nur noch Matsch. „Dabei sollte das mal ein Teil meiner Altersversorgung sein!“ Offenbar hatte der erbarmungslose Wahlhelfer posthum den Generationenvertrag aufgekündigt. Doch so einfach ist C. nicht unterzukriegen. Durch das Wasser waren auch die Wehrmachtsorden des Großvaters zum Vorschein gekommen: „Die hatte er 45 hastig hinter dem Regal untergeputzt.“ C. hat nicht lange gefackelt: „Hab ich gleich bei Ebay vertickt, allein die Nahkampfspangen haben 250 Euro gebracht!“ Den Gesamterlös hat C. umgehend in die blauen Bände investiert, mit Erfolg: Der Großvater hat sich nicht wieder blicken lassen. ANSGAR WARNER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen