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Fünf Sekunden Sein

Von Erlösung singen und Fußball spielen: In der Schaubühne hatte „d'avant“ Premiere, ein bizarres Stück von vier singenden Tänzern, die Madrigale und Hymnen des Mittelalters mit katastrophischen Bildern von heute verbinden

Ein alter Wanderer verwandelt sich in eine Braut. Der schwarze Mantel rutscht ihm von den Schultern, ein weißes Hemd fließt über seine Hüften, ein weißer Schleier über den Kopf. Drei Schritte weiter und unter den fleißigen Händen ihrer Begleiter wird aus der Braut eine schwarze Witwe. Die nächste Verwandlung ist die in einen Leichnam, den die anderen zu Grabe tragen. Kaum eine Minute haben diese Metamorphosen gedauert.

Ein Leben in wenigen Bildern wie im Flug durchqueren: Das war die Kunst früherer Epochen. Ihre Bilder zielten auf eine Ganzheit, in der die irdischen Wege des Menschen einen Schlüssel zu seinem himmlischen Leben vorzeichneten. An diesen metaphysischen Entwurf, der mit jedem Zeichen von Schmerz eine Hoffnung auf Erlösung verbindet, knüpft das Tanz- und Gesang-Stück „d'avant“ an, das in der Schaubühne Premiere hatte.

Sie singen lateinisch, französisch und mittelhochdeutsch, Madrigale, Motetten und Hymnen. Aber diese „Boygroup des Mittelalters“, wie sie sich selbst im Programmheft nennen, besteht aus vier Tänzern, zwei aus der Compagnie von Sasha Waltz, zwei aus dem Tänzerkollektiv Les Balletts C. de la B. Das Bühnenbild ist ein Einsatzort für Feuerwehrleute: Eine Baustelle, Gerüste, Sirenen, Absperrungen. Wacklige Türme werden aus Steinen gebaut, auf denen die Tänzer sehr vorsichtig balancieren. Im Domino-Effekt kippt eine lange Reihe aus Ziegel langsam, langsam um und bringt einen Teil des Gerüstes zum Einsturz. Ein Grab wird ausgehoben, Körper bleiben leblos auf der Strecke, andere können gerettet werden.

In rasanter und grotesker Folge erscheint ein kurzer historischer Abriss von der mittelalterlichen Prozession bis zur Love Parade: Flagellanten, Agitatoren, Fans, Straßenschlachten, Fußballspieler. Jede Zeit bringt ihre eigenen kollektiven Rituale hervor, und die werden hier mit wenigen Gesten zitiert. Wie im Maßstab, der 2.000 Jahre in 200 Zentimeter übersetzt, erscheint auf einmal gar nicht so viel, was da an Zeit hinter uns liegt. Entsprechend kurz ist auch die Strecke, die man selber geht.

Ausgefüllt wird dieser kurze Teilabschnitt mit Prozessen von Vereinigung und Teilung, in die sich die vier Männer mit immer neuer Leidenschaft stürzen. Sie sind äußerst erfindungsreich in ihren Umarmungen und Verschlingungen, die sie miteinander verwachsen lassen. „Hab Gnade mit mir / … / Erlöse meine Unvollkommenheit“, singen sie dabei – eine Unvollkommenheit, die sie so anziehend macht und so bedürftig, stets auf der Suche nach einer zweiten Hälfte.

„d'avant“ ist ein seltsames Stück, weit entfernt von der Geschichte der Schaubühne, die gerade ihr vierzigjähriges Bestehen feiert. In seinem kunsthistorischen Überschwang ähnelt es Filmen von Peter Greenaway oder Matthew Barney; auch dort wird Vergangenheit zum Kostüm der Wünsche, die sich der Ökonomie der Gegenwart nicht unterwerfen wollen. KATRIN BETTINA MÜLLER

22.–24. September, 20.30 Uhr, Schaubühne am Lehniner Platz

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