Sag mir, wo die Autos sind

Ohne das Volkswagenwerk wäre Wolfsburg, die prototypische deutsche Autostadt, noch heute nur ein hübsches Renaissanceschloss unweit des Mittellandkanals. Aber halt, irgendetwas stimmt hier nicht …

von REINHARD KRAUSE

Ein gutes Buch, ein herrliches Buch. Schlicht „Wolfsburg“ heißt es und ist 1963 erschienen. Neunzig Seiten nichts als Wolfsburg, Deutschlands Autostadt Nummer eins, wie sie vor vier Jahrzehnten aussah. Oder wenigstens wie der Fotograf Heinrich Heidersberger (der heute, 96 Jahre alt, noch immer ein Studio im Wolfsburger Schloss betreibt) sie damals gesehen hat. Das Gesicht einer mobilen, modernen Musterstadt, in der alles seinen zugewiesenen, gut durchdachten Platz hat: Im Norden die Arbeit im Volkswagenwerk, im Süden die junge Wohnstadt und dazwischen, als schnurgerade Trennlinie, der Mittellandkanal.

Ein wenig erinnert der schwarzweiße Bildband an die „Sendung mit der Maus“: Seht mal, dorthin gehen eure Eltern morgens zum Arbeiten, da bauen sie all die Autos zusammen, und dort ist eure Schule, da die Kirche und die öffentliche Bücherhalle – die wurden beide von einem berühmten Architekten aus Finnland entworfen –, und das da ist die vielspurige Hauptstraße mit den ganzen Geschäften, dem Kino und dem Rathaus. Und wie es sich für eine dynamisch brummende Autostadt gehört, kreuzen überall kleine rundliche Autos herum, vor allem VW Käfer, natürlich. Eine wunderbare Einstimmung für einen Besuch in Wolfsburg.

Erst nach Süden in die Innenstadt oder erst über den Kanal in die zeitgleich zur Expo 2000 eröffnete Autostadt? Der ICE aus Berlin hat gerade den Wolfsburger Bahnhof Richtung Westen verlassen und gibt damit den Blick frei auf das Volkswagenwerk. Ein beeindruckendes Panorama: Direkt hinter den Gleisen liegt träge der Kanal und dahinter der gigantische Volkswagenriegel, eine Backsteinfront von sage und schreibe anderthalb Kilometern Länge.

Der Klotz am Horizont ist das westliche Ende des VW-Werks, das Verwaltungshochhaus. Fast auf gleicher Höhe mit dem Bahnhof befindet sich als östlicher Abschluss das Kraftwerk mit seinen vier gigantischen Schornsteinen. Im Wolfsburg von vor vierzig Jahren waren es nur derer drei. Noch ein bisschen weiter östlich, hinter einer hafenartigen Ausbuchtung des Kanals, ragen die futuristischen Neubauten des Auslieferungs- und Freizeitparks von VW auf, die „Autostadt“ (Motto: „Mobilität erleben“).

Tsching, tschang, tschung: erst die Innenstadt! Auf dem Bahnhofsvorplatz ist schnell der Stadtplan entdeckt. Eine kleine Kurve um den Busbahnhof, und dahinter beginnt die pulsierende Verkehrsschlagader Wolfsburgs mit dem Kulturzentrum von Alvar Aalto und dem berühmten neuen Kunstmuseum: die Porschestraße. Was für ein Name! Aber wo ist der Boulevard? Ein Straßenschild bringt Gewissheit: Dies hier ist die Porschestraße! Aber hier sieht’s nicht aus wie anno 63, sondern wie in der Neuen Großen Bergstraße in Hamburg-Altona! Das ist ja eine x-beliebige verschnarchte Fußgängerzone! Wolfsburg, mein schwarzweißes Wolfsburg, in das man sich so schön versenken konnte, wo bist du geblieben? O je.

Nicht allein, dass hier keine Autos mehr fahren und Großstadt spielen; die Verkehrsberuhigung sollte offenbar total und unumkehrbar sein. Wo einst ein Mittelstreifen den Fluss der Autos teilte, stehen nun pavillonartige Geschäftshäuschen. Die Blickachse vom südlichen Ende der Innenstadt über den Kanal hinweg zum Renaissanceschloss rechts vom VW-Werk, sie ist dahin. Es ist zum Weinen. Die schlichten klaren Häuserfronten der Aufbaujahre nach dem Krieg, sie schieben heute fast sämtlich – Bausparen macht’s möglich – scheußliche Vorbauten auf den Platz.

Um die einst großzügig geplante Straße vollends gemütlich zu machen, ist ein permanentes Auf und Ab künstlicher Senken und Hügelchen angelegt worden. Auch scheinen die Stadtplaner vom Ehrgeiz getrieben gewesen zu sein, alle fünf Jahre und alle hundert Meter einen neuen scheußlichen Spring- oder Plätscherbrunnen aufzustellen. Und ganz offensichtlich prosperiert die einst krisengeschüttelte Stadt, denn jeder einzelne dieser Brunnen ist in Betrieb!

Wolfsburg, 1938 als „Stadt des KdF-Wagens“ gegründet und im Wesentlichen in den Nachkriegsjahren vollendet, hatte ganz offensichtlich nicht den nötigen langen Atem, seine planerische Originalität zu konservieren – wofür es handfeste wirtschaftliche Gründe gab: Als in den Siebzigerjahren die Ölkrise sich zur Autokrise weitete und fast jede deutsche Innenstadt zur Fußgängerzone umgerüstet war, mochte auch die Volkswagenstadt nicht von der Geschichte ins Abseits gestellt werden.

„Durch den Umbau zur Fußgängerzone und das Einfügen einer Kleinstruktur“, heißt es in einer Broschüre zur baulichen Umgestaltung Wolfsburgs (www.wolfsburg-staedtebau.de), „erhält der inzwischen stark befahrene Teil der Stadtachse bis 1981 einen geschäftlichen Basarcharakter. Eine ‚Verkaufslandschaft‘ mit Brunnen, Wasserlandschaften, Spielzonen und kleinen Plätzen soll Kaufkraft binden und urbanes Stadtleben fördern.“ Ein Leben ohne Auto offenbar. Die wirtschaftliche Grundlage für Wohl und Wehe dieser Stadt, sie wird in die Nebenstraßen verbannt. Aus der Porschestraße ist eine Hackenporschestraße geworden.

Zum architekturhistorischen Glück ist wenigstens das südliche, das „städtische“ Ende der Porschestraße weitgehend unangetastet geblieben: Das Rathaus hat in die Nachbarschaft expandiert, aber der Baukörper blieb von entstellenden Anbauten verschont. Auch Alvar Aaltos nach außen recht trutzig geratenes Kulturzentrum mit der Stadtbibliothek präsentiert sich innen wie eh und je als für jedermann offenes Begegnungszentrum mit viel Platz und umwerfender Architektur im Originalzustand.

Wenige Schritte weiter bildet das im Mai 1994 eröffnete Kunstmuseum den neuen Abschluss der einstigen Prachtstraße. Dahinter liegt nicht mehr wie 1963 der Stadtwald, sondern, auf einem sanften Hügel, ein weiteres architektonisches Glanzlicht: das 1973 eingeweihte Theater von Hans Scharoun mit seinem ausgesprochen lichten und raumgreifenden Foyer. Diesem so genannten Südkopf mit seinen Kulturbauten scheint die Wolfsburg AG, ein Zusammenschluss aus Stadt und VW-Werk, mittlerweile ein nördliches Pendant gegenüberstellen zu wollen. Neben dem Bahnhof entsteht derzeit „Phaenon“, ein „Science Center“, das von niemand Geringerem als der Londoner Architekturrebellin Zaha Hadid entworfen wurde.

Der Versuch von Handel und Mittelstand, sich über „Basarzonen“ und „Käuferbindung“ vom angeschlagenen Autokonzern und dessen Einfluss auf das Stadtbild zu emanzipieren, erscheint heute als Übergangsphase. Inzwischen hat VW durch das „5.000 mal 5.000“-Programm und die dienstleisterisch geprägte Autostadt die Arbeitslosigkeit in der Region erfreulich gesenkt und kann es sich auch wieder leisten, im Stadtbild gemeinnützig und imagebewusst beim Klotzen zu helfen. Die gute Nachricht: Solche Masterplans sehen besser aus als mittelständisches Kleinklein.

Wer von der Wolfsburger Innenstadt aus in den Freizeitpark Autostadt gelangen will, muss den Bahnhof passieren. Ein großes schwarzweißes Verkehrsschild weist den Weg: Eine symbolische Mutter mit gebauschtem Petticoatrock zerrt ein symbolisches Kind nach links, einem Pfeil hinterher. Wolfsburg mag längst Heidersbergers frühe Sixties aus dem Stadtbild verbannt haben, deutsche Straßenpiktogramme aber kennen keine modischen Umschwünge.

Folgt man dem Pfeil, landet man vor einer Plakatwand mit der aktuellen VW-Werbung. Vor grasgrünem Hintergrund bleckt ein maliziös grinsendes Schaf blitzende Reißzähne. Es sieht aus wie ein Mastino in Schurwolle. Daneben steht harmlos: „Der Golf R 32“. Heitere Autowelt! Die prominente Platzierung der Werbung jedoch scheint komplett zufällig – denn drüben, in der Autostadt, finden sich nicht die kleinsten Werbebanner, nicht einmal Firmenlogos. Reinste Sophistication. Aber was braucht es noch Plakate und Logos, wenn der ganze Ort eine einzige Werbeveranstaltung ist?

Nun geht es durch einen verschalten Brettergang entlang des Kanals. Hinter den Holzbrettern wird an Zaha Hadids Wissenschaftszentrum gewerkelt. Der fertige Bau wird eines Tages an einen gestrandeten Pottwal erinnern, der sich im Todeskampf noch einmal in die Höhe bäumt. Noch ist von der „dekonstruktivistischen“ Form allerdings nicht allzu viel zu erkennen.

Am Ende des Gangs führt eine Rolltreppe in die Höhe zur Fußgängerbrücke über den Mittellandkanal. Hier oben hat man die Wahl zwischen Selberlaufen oder – ironische Reverenz an den Industriestandort? – einer Art Fließband, auf dem man dem VW-eigenen Freizeitpark zuschwebt. Aus der Ferne sieht man schon bunte Kinderautochen fröhlich über einen kleinen Verkehrsübungsparcours ruckeln.

Jetzt nur noch die Treppe hinunter, eine der meterhohen Glastüren öffnen, und schon steht man im Empfangsbereich der Autostadt, der „Piazza“. Wer es, von der lockenden Architektur angezogen, bis hierhin geschafft hat, stößt nun unter Umständen auf Granit. Eine Eintrittskarte, die nur zum Lustwandeln berechtigt, nicht aber zum Besuch der Pavillons, ist nicht vorgesehen, wie die überaus freundliche junge Empfangsdame gerade überaus bedauernd einem enttäuschten Besucher mitteilt. „Vielleicht kommen Sie am Abend wieder, da gibt es ermäßigten Eintritt …?“ Der Tagestarif beträgt immerhin erschreckende vierzehn Euro.

Diesen Obulus könnte selbst ein Autofeind schlechter anlegen. Im Park nämlich präsentiert der Konzern, dem es nicht gelang, Wolfsburg zum deutschen Brasilia zu machen, ein utopisches Anti-Los-Angeles, eine autolose Insel. Ein Eiland auf einem (noch) fremden Stern – mit feinstem Sandstrand hier, bonsaiartig bewachsenen Hügelchen dort, unablässig gleitenden Wasserflächen und – selbstredend – einer komplett durchkomponierten Expo-Architektur aus dem Büro von Gunter Henn. Vom geradezu Licht schluckenden graphitschwarzen Kubus des Lamborghini-Pavillons und den glitzernden verschachtelten Kegelstümpfen von Audi über das weite Rund des Kundencenters und die im Boden versinkende Computermaus von Bentley bis hin zum gläsernen VW-Würfel und den hoch aufragenden Glaszylindern am Ende des Parks, den beiden je vierhundert Pkws fassenden, für Besucher aber unzugänglichen „Autotürmen“. Die Siedlung aus einem Guss, hier hat sie einen neuen Standort gefunden. Auch wenn dieser neueste Stadtteil für Wolfsburger wie alle anderen Besucher nur gegen Cash zu erreichen ist.

In der Autostadt werden die Konzernprodukte ausnahmslos indoor präsentiert, und auch das auf dezenteste Art. Ob der Verzicht auf das rollende Auto eine Lehre aus der Basarwerdung der Porschestraße ist? Auch von einem Besucherparkplatz ist weit und breit nichts zu sehen. Der nämlich befindet sich, diskret verborgen, westwärts hinter dem Parkgelände. Zur „Kaufkraftbindung“ muss der Alltag ausgeblendet werden – doch VW geht noch weiter und blendet auch noch den Verkaufsalltag aus! Das Auto ist hier ein permanentes, aber hochgradig immaterielles Glücksversprechen. Der inszenatorische Spannungsbogen zielt auf den krönenden Abschluss, die Inbesitznahme des bestellten Fahrzeugs im Kundencenter.

Natürlich dreht sich in den Pavillons und jedem anderen Gebäude auf dem 25 Hektar großen Parkgelände trotzdem alles um das Auto beziehungsweise die Selbstinszenierung des VW-Konzerns. Wo auf das unmittelbare Fahrerlebnis konsequent verzichtet wird, ist naheliegenderweise Simulation alles. Tatsächlich gibt es fast nichts aus dem Bereich der Mobilität, das hier nicht erfahrbar gemacht würde – wenn auch stets nur in einer sicherheitsgeprüften Als-ob-Anordnung. Eine Art elektrischer Fußabtreter in einer begehbaren Wandnische führt fühlbar vor, welch enorme Rüttelfestigkeit jedes montierte Einzelteil eines Autos besitzen muss. Ein Nebeltunnel macht die Hilflosigkeit bei ausfallender Orientierung mit Händen greifbar. Und gelegentlich darf man in neue Modelle klettern, zum Probesitzen. Fahren unmöglich.

Im Abholerzentrum wird sogar die größte Versagensangst des VW-Kunden simuliert: der hochnotpeinliche Crash mit dem frisch erworbenen Neuwagen unter den schreckgeweiteten Augen eines Kundendienstmitarbeiters. Der wird auf der Leinwand von Hardy Krüger jr. dargestellt, während eine vielleicht dreißigköpfige Besuchergruppe, auf Autositzen festgeschnallt, zu Motorengeräuschen hin und her geschubst wird und durch die imaginäre Frontscheibe miterleben muss, wie der virtuelle Neuwagen von einer Katastrophe in die nächste schlittert, ein Absturz aus dem gläsernen Autoturm in den darunter liegenden Teich inklusive.

Die unausgesprochene entlastende Botschaft: So blöd können Sie sich gar nicht anstellen, dass wir nicht noch immer freundlich, verbindlich und dienstleisterisch mit Ihnen verfahren. Entspannen Sie sich, hier kann rein gar nichts Schlimmes passieren.

Dass die Autostadt insgesamt und in jedem Detail einen merkwürdigen Effekt heitersten Wohlbehagens auslöst, korrespondiert vorzüglich mit einer allgegenwärtigen intelligenten Inhaltlosigkeit. Nirgendwo äußert sich dieser eigentlich paradoxe, überraschend angenehme Umstand so deutlich wie in den verschiedenen multimedialen Versuchen, angeblich die Firmenwerte veranschaulichen zu wollen. Was als vermeintlich dröge Firmenpropaganda annonciert wird („Sehen Sie nun einen Film über die Leitwerte des Volkswagenkonzerns!“), entpuppt sich als ins Dreidimensionale geweitetes Werbefilmchen. Aber wofür eigentlich? Autos? Kommen gar nicht vor. Firmenwerte? Hmh, tja … Waren da welche?

Der (film)technische Aufwand zur Realisierung der multiplen Simulationen ist bemerkenswert. Ein Superlativ jagt die nächste Weltneuheit, als da wären der Welt größtes „Sphärenkino“ (eine Art kinematografische Sternwarte), die weltweit erste Projektion eines 360-Grad-Kurzfilms, der Fahrsimulator oder ein komplett neues Filmformat. So perfekt ist diese künstliche Welt, dass der Besucher hinterher im strahlenden Weiß eines Ausstellunsgraums einen Weberknecht an der Wand bekichert.

Zum Schluss winkt der Gang zur Abholstation im Kundencenter. Hier ist Makellosigkeit oberstes Gesetz. Deshalb werden nicht nur die aus den Autotürmen überführten Neuwagen von letzten Fingerabdrücken befreit, sondern auch die pausenlos kreisenden Drehtüren am Eingang. Die eilfertig den stets entschwindenden Türflächen nacheilende Putzkraft ist die einzige Person im gesamten Dienstleistungsteam, die einen Hauch Sisyphos-hafter Anstrengung verbreitet.

Von einer Balustrade aus lässt sich verfolgen, wie glückliche Familien vor ihrem niegelnagelneuen Fahrzeug für den VW-Fotografen posieren. Eine schöne Erinnerung fürs Familienalbum. Man strahlt in die Kamera und befingert glücklich die Karosserie, da sind schon wieder die ersten Tapser auf dem Lack. Aber was soll’s – jetzt geht es doch ohnehin hinaus ins dreckige, gefährliche, echte Leben.

In Dresden übrigens beschreitet Volkswagen schon wieder neue inszenatorische Wege. Nicht nur dass das dortige VW-Werk eine „gläserne Werkstatt“ betreibt, der Kunde kann gar die Geburt seines eigenen Autos live und in allen Arbeitsschritten miterleben. Statt autoloser Traumlandschaft der Schritt in die Konkretion: Man beobachtet die Zauberlehrlinge beim Zaubern. Mehr emotionale Bindung ans rollende Wunderwerk war nie.

Zurück im ICE ein letzter nostalgischer Blick in den Bildband. Plötzlich nagt ein Zweifel: Ist das Wolfsburg von 1963 vielleicht auch nur blendende Schau? Oder ist Heinrich Heidersberger einfach nur ein sehr guter Fotograf?

REINHARD KRAUSE, taz.mag-Redakteur, Baujahr 1961, hat noch nie ein motorisiertes Gefährt besessen