„Es ist ein Versuch, das Leben zu imitieren“

Von Figuren und ihren Geheimnissen: Annette K. Olesen erarbeitete ihren Film „Kleine Missgeschicke“ mit den Schauspielern – ohne Drehbuch

taz: Frau Olesen, „Kleine Missgeschicke“ entstand nach der Mike-Leigh-Methode. Die Schauspieler entwickelten ihre Rollen ohne jede Drehbuchvorgabe, Sie haben die monatelangen Proben überwacht und mussten daraus eine Geschichte kondensieren. Waren Sie dabei eher als Regisseurin oder als Psychiaterin gefragt?

Annette K. Olesen: Doch eher als Regisseurin. Psychiatrie ist, glaube ich, ein sehr einsames Geschäft, und dazu muss man noch alle diese schrecklichen Geschichten aushalten.

Gab es schizophrene Anwandlungen während der Proben?

Natürlich gibt es Parallelen zwischen einer Therapie und der Methode, die wir angewendet haben, weil wir so tief in die Figuren eindringen. Es kam vor, dass sich Schauspieler beklagten, ihre Figur wäre ständig bei ihnen und ließe sie Dinge tun, die sie selbst niemals tun würden.

Wurden Sie in solchen Momenten zur Psychiaterin?

Wir haben diskutiert, aber wir sind nie ins Psychotherapeutische abgerutscht. Wir sprachen nur darüber, was die Figur tun oder denken würde, nie, warum sie es tun oder denken würde. Ich habe mich dabei wie eine Zeitungsredakteurin gefühlt. Meine Aufgabe bestand darin, einerseits die Arbeit der Schauspieler zu respektieren, andererseits die Aspekte ihrer Arbeit herauszupicken, die ich am interessantesten fand.

Was sind die Vorteile der Methode von Mike Leigh?

Erst einmal: Alle Schauspieler lieben sie. Im Normalfall bekommen sie ein Drehbuch, gehen zum Set, bekommen einen Hut aufgesetzt und sagen ihre auswendig gelernten Zeilen auf. Vielleicht diskutieren sie hin und wieder ein wenig über einzelne Repliken mit dem Regisseur, aber im Großen und Ganzen wird ein Schauspieler wie eine Maschine benutzt, die man vor die Kamera schiebt. Bei der Mike-Leigh-Methode nutzt man stattdessen die Fähigkeiten und Erfahrungen der Schauspieler.

Liegt in der Methode die Gefahr, dass die Schauspieler sich zu sehr in ihre Rollen versenken und die Figuren zu nett und ungebrochen gestalten?

Das wurde tatsächlich sehr schnell zum Problem. Es zu vermeiden, gehörte zu meinen Aufgaben. Andererseits gibt es dieses Problem auch, wenn man ganz klassisch ein Drehbuch schreibt. Auch dann tendiert man dazu, seinen Figuren die Fehler und Macken wegzuschreiben, weil man möchte, dass das Publikum sie sympathisch findet. Bei unserer Methode blieben die negativen Seiten eher erhalten, weil für die guten Seiten genug Platz da war. Und ich entschied dann, welche Seiten wann in den Vordergrund treten durften.

Gab es während der anderthalbjährigen Proben manchmal das Gefühl, dass sich keine Geschichte finden lässt, die die Figuren unter einen Hut bringt?

Ja, es gab Zeiten, in denen der Drehbuchautor und ich uns verzweifelte Blicke zuwarfen. Wir hatten wundervolle Figuren, aber wo zum Teufel war die Geschichte?

Sprachen Sie darüber mit den Schauspielern?

Nein, wir haben die Schauspieler niemals in diesen Prozess involviert. Das ist Teil der Methode. Die Schauspieler dürfen nicht an der Geschichte mitarbeiten, sie dürfen ja nicht einmal untereinander über ihre Rollen sprechen, damit ihre Figuren ehrlich bleiben.

Sind Sie nachts durch die Kopenhagener Kneipen gezogen, um zu kontrollieren, dass die sich nicht beim Bier untereinander austauschen?

Nein, nein. Sie wussten, wie wichtig dieser Aspekt ist, auch wenn sie unglaublich neugierig waren. Diese Methode ist ja ein Versuch, das Leben zu imitieren, deshalb mussten sie die Geheimnisse ihrer Figuren bewahren. Hätten die anderen Schauspieler ihre Wünsche und Absichten gekannt, hätte es keine Missverständnisse, keine Konflikte gegeben, aus denen sich die Geschichte entwickeln konnte.

Lässt sich diese Methode für jedes Genre verwenden?

Bei einem Wikingerfilm könnte es problematisch werden. Welcher Schauspieler weiß schon, wie Wikinger reagieren würden?

Aber welcher Drehbuchautor weiß das schon?

Ja, aber der recherchiert dann und erfindet den Rest dazu. Die Mike-Leigh-Methode bietet sich vor allen bei zeitgenössischen Stoffen an, die einen realistischen Hintergrund haben. Aber natürlich kann man immer Teile der Methode verwenden. Die schauspielerischen Leistungen werden besser, wenn man die Schauspieler einfach spielen lässt, wenn man mit ihnen improvisiert und mit ihnen die Figuren entwickelt.

INTERVIEW: THOMAS WINKLER

„Kleine Missgeschicke“. Regie: Annette K. Olesen, mit Jørgen Kiil, Maria Würgler Rich, Jannie Faurschou u. a., Dänemark 2001, 104 Min.