: Abschied von einer Metapher
Noch nie wurde so viel über Literatur geredet wie zurzeit. Trotzdem sinken die Umsätze des Buchmarktes – und morgen eröffnet die Frankfurter Buchmesse mit deutlich weniger Titeln und Ausstellern als im letzten Jahr. Der Pegel fällt. Ist das das Ende der viel beschworenen „Bücherflut“?
von KOLJA MENSING
Die Buchmesse wartet gleich am ersten Tag mit einem ganz besonderen Höhepunkt auf. Der Wetterforscher und Medienstar Jörg Kachelmann wird morgen Mittag, pünktlich um „fünf vor zwölf“, das von ihm herausgegebene Buch „Die große Flut“ vorstellen.
Nicht nur der gewählte Zeitpunkt hat Symbolkraft. Der Ankündigungstext des Rowohlt Verlages verweist noch einmal auf die „Welle der Solidarität“, die der „Jahrhundertflut“ folgte, und in Frankfurt wird sich möglicherweise der eine oder andere daran erinnern, dass eben diese Wogen vor einigen Wochen auch die Verlage und den Buchhandel erreichten. Der Börsenverein und seine Landesverbände richteten Spendenkonten für die 37 Buchhandlungen in Sachsen und Sachsen-Anhalt ein, die von der Flut „überrollt wurden“ (Börsenblatt). In Berlin versammelten sich derweil engagierte Schriftsteller und Schriftstellerinnen, unter ihnen Steffen Kopetzky, Amelie Fried und Roger Willemsen, zu einer Benefizveranstaltung für die ebenfalls in Mitleidenschaft gezogenen Bibliotheken: „Lesen gegen die Flut“ war das Motto der Veranstaltung.
Dieser Sturzbach des guten Willens hat jedoch mit dem ablaufenden Hochwasser sein natürliches Ende gefunden, und spätestens jetzt, mit Beginn der 54. Frankfurter Buchmesse, spricht man stattdessen wieder über die „Ebbe“, die in den Kassen der Buchhändler herrscht, und den „historischen Tiefstand“, den die Umsätze auf dem Buchmarkt in diesem Jahr erreicht haben.
Ebbe, Tiefstand und Konjunkturflaute: So bleibt man immerhin im Bildbereich. Nur eine ansonsten recht beliebte maritime Metapher fand bisher kaum Erwähnung. Von der in jedem Jahr beschworenen „Bücherflut“ ist in diesen Tagen keine Rede.
Diese Tatsache ist nun weniger dem Taktgefühl der Nachrichtenagenturen und Kulturredaktionen geschuldet als schlicht und einfach den Fakten. Konnten bisher von Jahr zu Jahr immer neue Rekordmarken aus Frankfurt gemeldet werden, so kündigt sich jetzt ein gegenläufiger Trend an. 330.000 Titel werden ab morgen an den Messeständen ausliegen, das sind knapp 70.000 weniger als im vergangenen Jahr. Der Pegel fällt. Das ist das Ende der „Bücherflut“.
Am Ufer zurück bleiben schlechte Nachrichten und traurige Einsichten. Die Zahl der Aussteller in Frankfurt ist um gut fünf Prozent gesunken, weil viele kleinere Verlage sich die Messestände nicht mehr leisten wollen. Random House verringert seine Standfläche, traditionelle Empfänge werden gestrichen, und in den Führungsetagen der Holtzbrinck-Gruppe ist die Parole der „neuen Bescheidenheit“ ausgegeben worden.
Die Pressedamen und -herren kontrollieren streng die Vergabe der kostenlosen Rezensionsexemplare, und die Buchhändler und Buchhändlerinnen, die gemeinsam mit ihren Auszubildenden bisher in Frankfurt oft zu den vergnügtesten Fachbesuchern gehörten, dürften in diesem Jahr vor allem über die Höhe des zu erwartenden Arbeitslosengeldes nachdenken – unter anderem meldete die traditionsreiche Berliner Buchhandlung Kiepert in diesem Jahr Insolvenz an, Hugendubel führte Kurzarbeit ein und viele kleinere Buchläden mussten schließen. Nach der Bücherflut steht allen Beteiligten das Wasser bis zum Hals.
Dabei ist es ja nicht so, dass sich niemand mehr für Literatur interessiert. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade in diesem Jahr hat sich wieder einmal gezeigt, dass die öffentliche Wertschätzung von Literatur, insbesondere der „anspruchsvollen Literatur“, unvermindert groß ist. „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“ wurde als „Fernsehereignis des Jahres“ gefeiert. Die Begeisterung, mit der die Zuschauer die Geschichte Thomas Manns und seiner Familie verfolgten, ließ für einen Moment die versunken geglaubte Welt des deutschen Bildungsbürgertums und eine ihrer zentralen Heldenfiguren wiederauferstehen. Nachdem man sich zu Beginn des Jahres von seiner Mann-Begeisterung erholt hatte, konnte man mit dem gleichen bildungsbürgerlichen Eifer auf der Welle der Empörung mitreiten, die durch Martin Walser Roman „Tod eines Kritikers“ ausgelöst wurde.
Einige der an dieser Debatte beteiligten Personen – vorneweg Marcel Reich-Ranitzki und Joachim Kaiser – konnte man später dabei beobachten, wie sie unter großer öffentlichen Anteilnahme mit Empfehlungen zu einem literarischen Kanon versuchten, die Deiche der Kulturnation gegen die anbrandende Geistlosigkeit und Traditionsvergessenheit zu stärken. Sogar der altehrwürdige Suhrkamp Verlag schaffte es noch einmal während einer kleineren Auseinandersetzung um eine Biografie Siegfried Unselds, sich im bewegten Meer der Publikumsverlage als Insel der Seriosität und Qualität zu behaupten. Und wer hätte gedacht, dass die Feuilletons noch eine Sturmwarnung ausgeben würden, weil in der Nähe von Arno Schmidts ehemaligem Wohnhaus in Bargfeld eine Geflügelmastfarm gebaut werden soll? Kaum zu glauben, aber auch das war eines der großen Themen in dieser Saison.
Es wird also viel über „Literatur“ geredet und geschrieben, diskutiert und gestritten – aber um „Bücher“ geht es dabei nur am Rande. Auch das gehört zum Ende der Bücherflut und ihrer metaphorischen Überhöhung, in der sich einst die alles mit sich reißende Kraft der Literatur mit dem Vertrauen in die Dynamik des Buchmarktes vereinigte.
Die Wasser haben sich geteilt – darüber kann keine noch so einfühlsame Berichterstattung über das „Buchhandelssterben“ oder die „Bedrohung der vielfältigen deutschen Verlagslandschaft“ hinwegtäuschen. Auf der einen Seite erstrecken sich die ozeanischen Weiten eines reißerischen Debattenfeuilletons, das die aktuelle Buchproduktion allein als Stichwortgeber benutzt und gleichzeitig seinen Rezensionsapparat immer weiter zurückfährt: Am liebsten liest man sich selbst.
Auf der anderen Seite liegen die rauen Gewässer des Buchmarktes, in denen sich viele der angeblich so geschätzten Verlage und Buchhändler mühsam an der Oberfläche halten. Mit ihnen schnappen die Schriftsteller nach Luft – darunter nicht wenige, die bis vor kurzem noch Pauschalistenverträge bei einer der großen überregionalen Zeitungen hatten. Darum liegt es wohl nahe, dass zwei Wochen nach der Messe auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt das „vielschichtige Problem der Erfolglosigkeit von Schriftstellern“ auf der Tagesordnung steht: „Wir müssen wohl eine Perspektive ins Auge fassen, in der die Schriftstellerei als Erwerbsarbeit ausstirbt“, stellte der Literaturwissenschaftler Thomas Rothschild in der letzten Ausgabe der Literaturzeitschrift NDL fest.
So fischt jeder für sich im Trüben. Die letzten Versuche, zwischen den Gewässern der Produktion und Vermittlung zu kreuzen und sich als Akteur des Buchmarktes auf die Radarschirme der Feuilletons zu bringen, nehmen immerhin recht originelle Formen an. Der Verlag Hoffmann und Campe zum Beispiel hat einen – ernst gemeinten! – „Preis der Kritik“ gestiftet, um Personen zu ehren, die sich „um die Literaturvermittlung“ in Deutschland verdient gemacht haben. Martin Walser darf diese Auszeichnung in Form von 99 Flaschen Rotwein und einer Heinrich-Heine-Ausgabe am Buchmessenfreitag entgegennehmen: Die Schlammschlacht, die um seinen letzten Roman geführt wurde, wurde von der „unabhängigen Fachjury“ offenbar als literaturkritischer Höhepunkt des Jahres angesehen. Langsam beginnt man sogar das viel gescholtene „Literarische Quartett“ zu vermessen, das im Dezember vergangenen Jahres eingestellt wurde.
Immerhin, das nächtliche Fernsehprogramm ist noch für Überraschungen gut. „Vielleicht ist über die folgende Aktion zu berichten auch für die taz interessant“, schreibt der kleine Kölner Verlag „Die Muschel“ und kündigte an, ein „Satire-Buch“ mit dem Titel „So kriegt man alle Frauen rum“ an einem „ungewöhnlichen Ort“ zu bewerben: inmitten der Fernsehspots, in denen die Telefonsexanbieter zu später Stunde ihre Dienste anbieten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen