: Ritt auf der Kanonenkugel
Ende der Saison – jetzt im Herbst kommt der Fetisch Zweirad wieder in die Garage. Sein Mythosaber wird in der Popkultur überwintern. Über Dissidenz und die Kunst, ein Motorrad zu starten
von ARNO FRANK
„Being shot out of a cannon will always be better than being squeezed out of a tube. That is why God made fast motorcycles, Bubba.“
Hunter S. Thompson
Es ist natürlich Unsinn. Ein Gefährt zu bewegen mit 200 Kilogramm Gewicht, dem Hubraum eines Kleinwagens, der Höchstgeschwindigkeit eines Ferrari und dem Antritt eines Kampfjets. Ein Fahrzeug, das bei Stillstand umfällt und stabiler wird, je schneller es unterwegs ist. Ein Transportmittel mit schmaler Silhouette, das seinen Nutzer nicht schützt, sondern, im Gegenteil, aussetzt. Wo im Falle eines Falles die Knautschzone der Luftraum ist, den der Fahrer durchfliegt. Warum fahren Menschen Motorräder?
Ungefährlich ist es jedenfalls nicht und deswegen auch kein Wunder, dass auf Biker-Gottesdiensten für Unfallopfer gebetet wird. Immerhin 9.000 Besuchern auf 6.000 Maschinen war dies in Berlin 2001 offenbar ein dringendes Bedürfnis. Am vergangenen Sonntag, zum Ausklang der Saison, verirrten sich gerade mal 200 Motorradfahrer in den Dom, um ihrer gefallenen Kameraden zu gedenken; wenn’s in Strömen regnet, bleibt das Moped eben in der Garage. Es ist ohnehin ein eitles Ritual, sich für einen ebenso überflüssigen wie gefährlichen Zeitvertreib auch noch eine metaphysische Lebensversicherung einzuholen. Denn was bliebe übrig von der Freiheit als zentralem Versprechen des Motorrades ohne seinen extremen Gegenpol, den Tod?
Besonders tief muss nicht schürfen, wer mit psychologischen Mitteln zum Kern des Phänomens vordringen will. So verweisen manche Experten auf das Bedürfnis, langsameren Verkehrsteilnehmern den „Auspuff“ zu zeigen, sie ihre Abgase riechen zu lassen, mithin also auf eine anale Fixierung des Fahrers selbst. Treffender wäre da schon der Blick aufs Fahrzeug als Fetisch, wie er etwa im Rocker-Drama „The Wild One“ von 1954 etabliert wird. „Ich wollte dich berühren“, sagt die brave Kathy zum wilden Marlon Brando – während die Kamera sachte zur Seite fährt und seine chromblitzende Triumph Bonneville einfängt.
Eine andere, nicht weniger rustikale Theorie begreift das Motorrad schlicht als „Schwanzverlängerung“ – weil bei keinem anderen Fahrzeug Genital und Triebwerk in so engem Kontakt stehen. Wenn das stimmt, dann ist ein abgedunkelter Golf GTI mit entsprechender Herzschlags- beziehungsweise House-Beschallung auch nichts anderes als ein bergender Uterus. Aggression hier, Regression dort.
Evident sind dagegen die masturbatorischen Aspekte der Motorradfahrt: Zwischen den Schenkeln arbeitet ein Motor, der vermittels kleinster Drehbewegungen am phallischen Gasgriff verblüffende Kräfte freisetzt, die allgemein als lustvoll empfunden und gerne rauschhaft genossen werden. Wenn das zutrifft, dann sehnen sich etwa motorradfahrende Frauen nach einem vibrierenden Riesendildo. Oder einem anderen erotisch konotierten Transportmittel, dem Pferd.
Warum nicht? Schon in der Antike manifestierte sich die erstaunliche Erfahrung, auf dem Rücken eines Tieres die Einschränkungen menschlicher Physis hinter sich zu lassen, in der mythologischen Figur des Zentauren – unten Pferd, oben Mensch. „Centauro“ hieß ein Modell des italienischen Herstellers Moto Guzzi.
Überhaupt lässt sich der intendierte Charakter eines Motorrades häufig schon an seinem Namen ablesen: „Intruder“ oder „Bandit“ (Suzuki), „Vulcan“ oder „Ninja“ (Kawasaki), „Interceptor“ oder „Fireblade“ (Honda), „Monster“ (Ducati) oder einfach „Brutalo“ (MV Agusta) zeugen von einer Aggressivität, die in krassem Missverhältnis zur Verwundbarkeit der Fahrer steht.
Im Pop, besonders in der Ikonografie zeitgenössischer HipHop-Clips, hat sich das Motorrad längst als Sinnbild ekstatischer Todessehnsucht etabliert. Seit Puff Daddy 1999 in einem Video beiläufig von seiner Suzuki stürzte und, auf der Straße hockend, unversehrt weiterrappte, ist so manche Ducati, Honda oder Yamaha durch die Videos von Missy Elliott, Wu Tang Clan oder TLC chauffiert worden. Jüngstes Beispiel und Höhepunkt der morbiden Metaphorik ist das letzte Video von Aaliyah. Die Soulsängerin ist bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen und rast nun, posthum, auf einer Kawasaki durch Los Angeles.
Bemerkenswert ist, dass die Regisseure dabei völlig auf eine Marke verzichten, die bislang als Inbegriff der einspurigen Herrlichkeit gilt und in diesem Jahr ihren 100-jährigen Geburtstag feiert: Harley-Davidson. Das war eine Firma unter vielen, bis aus dem Zweiten Weltkrieg heimkehrende Bomberpiloten den Zweizylinder als Statement und Scharnier einer restaurativen Männergesellschaft entdeckten. Und das waren mehrheitlich Leute, denen auf Amphetaminen und über Dresden die Ideale der Zivilgesellschaft abhanden gekommen waren: Harley wurde zum obligatorischen Dienstfahrzeug der reaktionären „Hell’s Angels“.
Wenn der Film „Easy Rider“ von 1968 rückblickend als Legenden stiftend gilt, so ist das eine optische Täuschung. Die Protagonisten schmuggeln im Tank Drogen durchs Land und werden am Ende von ihren Choppern geschossen wie Indianer von ihren Pferden – hier waren die Harleyfahrer Outlaws, sehr zum Ärger der Firmenzentrale, die noch bis weit in die Siebzigerjahre größten Wert auf ein „sauberes“ Image legte. Ironischerweise war es Cliff Voss, ein Aktivist der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, der die Maschinen damals „choppte“ (von „to chop“, abhacken) und sie für den Film neu zusammenbaute.
Dass ausgerechnet aus dieser Maschine ein Mythos werden sollte, war vielmehr dem Vorsprung der Konkurrenz geschuldet. Sollten doch japanische Konzerne ihre modernen, leisen, billigen Reihenvierzylinder bauen – Authentizität versprach nur die hoffnungslos veraltete Manufaktur in Milwaukee, wo der totale technische Stillstand zum Credo erhoben wurde.
Nicht Dennis Hopper und Peter Fonda, sondern die Yuppies der Achtzigerjahre waren es, die der siechen Firma einen ungeahnten Aufschwung bescherten. Und es ist eben jene betuchte Kundschaft, die den kommerzialisierten „Mythos Harley“ heute endgültig ausgezehrt hat: Was einmal fahrender Fetisch einer weißen amerikanischen Mittelschicht war, der Rebellentum, Sex und masochistisch eingefärbte Männlichkeit in sich vereinte, wird heute vor allem von arrivierten Anwälten und Zahnärzten und „Bayern auf Rügen“ bewegt.
Neuerdings muss es nicht einmal mehr eine echte Harley sein: Heute hat jede fernöstliche Firma Maschinen im Sortiment, die sich optisch vom bräsigen Vorbild kaum noch unterscheiden lassen. Nicht nur, dass sie das Firmenschild verstecken und ihre Produkte „Royal Star“ oder „Vulcan“ nennen – die Japaner verschlechtern ihre V2-Triebwerke absichtlich, damit sie rappeln und wackeln wie das amerikanische Original. Eine Mimikry, wie sie im auf Verbesserungen versessenen Maschinenbau eher selten ist. Kurven lassen sich mit solchen Geräten ohnehin keine fahren: Harleys sind sozusagen für den langen Treck nach Westen konzipiert, für den endlosen Geradeauslauf auf Straßen wie der Route 66, die eigentlich als Zubehör mitgeliefert werden müsste.
Wer noch immer die verblassende Legende zitiert, zielt auf ein denkbar breites, dezidiert weißes, latent erigiertes Publikum. Wie etwa der Detroiter Prollrocker Kid Rock, dem die Harley als Insignie seines bierseligen Rocker-Images dient; aber auch bei Dauerlolita und Sauberfrau Britney Spears, die sich zur Bekräftigung ihrer gesungenen Lüge „I Love Rock ’n’ Roll“ auf der neuen Harley „V-Rod“ räkelt, der „v-förmigen Rute“, oh yeah!
Optimales Product-Placement eigentlich, wo sich doch das Ideal vom Rock ’n’ Roll nirgendwo so greifbar verkörpert findet wie im Motorrad. Hier wird buchstäblich gerockt, und zwar schaukelnd durch die Kurven, und buchstäblich gerollt, nämlich immer geradeaus.
Umworben wurde das weiße Massenpublikum in den Achtzigerjahren mit dem Sprüchlein „Don’t dream it, ride it!“, angelehnt an die Transvestiten-Devise „Don’t dream it, be it!“ aus der „Rocky Horror Picture Show“ – ein deutlicher Appell an den Exhibitionismus. Harley und Harleyfahrer brauchen die Spiegelung, ihr Revier ist der Boulevard. Fehlt das gaffende Publikum, tuckert die beschworene Faszination ins Leere.
Wer sich, wie etwa die HipHopper von Ost- und Westküste, von solchen Peinlichkeiten absetzen und Distinktion gewinnen will, der fährt lieber gleich Japaner. Die heißen meistens GSX-R, YZF-R1 oder ZZR, sehen genauso aus und lassen sich sowieso kaum auseinander halten. Gemein ist diesen Fahrzeugen nur, dass sie sich zu Harley verhalten wie Speed zu Gras, wie Motörhead zu Radiohead.
Tatsächlich ist das motorisierte Einspurfahrzeug sprichwörtlich „built for speed“. Physikalisch entspricht es nämlich weder dem Reiten noch dem Autofahren – sondern dem Laufen. Wie der Fußgänger durch den abwechselnden Einsatz seiner Beine den Sturz nach vorne verhindert, so muss der Motorradfahrer ständig zentrifugale und zentripetale Kräfte in Einklang bringen, will er nicht umkippen. „Und Geschwindigkeit gehört zum Wesentlichen“, notierte der Schriftsteller und Kunsthistoriker John Berger („Fahrt zur Hochzeit“) in einem Essay zum Thema: „Im Grunde lenkst du weder mit den Armen noch mit deinem Körper, sondern indem du deine Augen auf etwas heftest. Wenn du anfängst, auf etwas zu starren, dem du ausweichen möchtest, wirst du es treffen. Du fährst, wohin du siehst. Dein fester Blick leitet dich, aber es ist auch, als zerre an dir, was du anvisierst“, manchmal stundenlang, ohne Radio, Handy, Zigarette oder Palaver mit dem Beifahrer.
Technische Details sind bei solchen motorisierten Meditationsübungen keine Nebensache mehr. Die gegenwärtig kräftigste Serienmaschine, eine Suzuki, wiegt 217 Kilogramm, drängt mit 175 Pferdestärken vorwärts und durchbricht binnen Sekunden die Schallmauer von 300 Stundenkilometern. „Hayabusa“ heißt die Maschine, nach dem japanischen Wort für das Schwert der Samurai.
Solche wirklich schnellen Motorräder versprechen ihren Fahrern eine subjektive Omnipotenz, der sonst wohl nur Piloten von Düsenjägern teilhaftig werden. Sie sind erschwinglich, verkaufen sich prächtig – und stellen doch ein paradoxes Potenzial bereit, das wirklich auszuschöpfen einem Freitod gleichkommt. Wer sich nicht als tief fliegender Nierenspender versteht, der muss sich eben in der Kunst der fortwährenden Selbstbeschränkung üben. Nicht der Exzess bringt den Kitzel, sondern dessen Vermeidung. Und das ist schon fast wieder ein ganz vernünftiger Unsinn.
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