Verhängnisvolles Muster

betr.: „Frieden braucht Wahrheit“ (Serbiens Milošević und Kroatiens Mesić vor dem UN-Tribunal), Kommentar von Erich Rathfelder, taz vom 5. 10. 02

Trafen mit Mesić und Milošević vor dem UN-Tribunal wirklich zwei so unterschiedliche Denkrichtungen aufeinander? Mesić war jahrelang ein treuer Handlanger Tudjmans, der schon während des Ausbruchs des Krieges in Kroatien 1991 als letzter nomineller Staatspräsident des alten Jugoslawien – und somit als Oberfehlshaber der Armee (JNA) – propagandistisch und kriegsfördernd agierte. Kroatien nahm damals alle Mittel in Kauf, die Jugoslawien zerstören sollten, und opferte (nach professioneller Beratung durch amerikanische PR-Firmen) sogar Vukovar, um internationale Anerkennung zu finden.

Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens haben sich Völkerrechtsexperten mehr oder minder darauf geeinigt, dass die Sezession beziehungsweise Anerkennung Kroatiens völkerrechtswidrig und mitverantwortlich für den Ausbruch des Krieges war. Mesić rühmte sich damals damit, mit der Auflösung des alten Jugoslawien sein Werk vollendet zu haben.

Die Kriegsschuld lässt sich weder mit dem Abfeuern der ersten Gewehrsalve begründen noch über Kausalketten, die bei allen Kriegsparteien weit in die Vergangenheit reichen. Der entscheidende Gesichtspunkt ist die böse Absicht, die sich so schwer festmachen ließ. Weil dies so spekulativ ist und weil die Medien in ihrem Streben nach Verkürzung schnelle Schuldsprüche fällen, sind „die Serben“ auf die Anklagebank gedrängt worden. Jahrelang wurde diese Schwarzweißmalerei effektiv genutzt, unter anderem von Herrn Rathfelder – wie in diesem Kommentar.

Mesić’ halbherziges Anprangern der eigenen, kroatischen Kriegsverbrechen vor dem UN-Tribunal ist taktisch klug, doch ihm so per se den Heiligenschein aufzusetzen und seine Mitschuld am Krieg außen vor zu lassen, ist nicht nur unkritisch, sondern auch eine Verkehrung historischer Tatsachen.

Wo bleibt die Kritik an der Vertreibung von hunderttausenden Serben aus Kroatien, die bis heute nicht zurückkehren konnten in die „ethnisch gesäuberten“ Gebiete? Auch dies war ein bewusstes politisches Ziel kroatischer Politik, die von Mesić als Parlamentspräsident Kroatiens mitgetragen wurde. Bis heute stellen die Serben die ethnische Gruppe mit den meisten Vertriebenen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien dar. Das ist eine historische Tatsache, Herr Rathfelder, und Milošević wird solange abblocken, die „eigenen“ Fehler und Verbrechen nicht eingestehen, solange das UN-Tribunal ebendiesen Besitzanspruch auf die „Wahrheit“ für sich zu erheben scheint, denn den gibt es nicht. Sie liegt meist irgendwo dazwischen, in der Regel grau schattiert.

Die Mehrheit aller Serben, sowohl der bosnischen, kroatischen und der in Jugoslawien lebenden wird sich erst dann selbstkritisch mit der Grausamkeit der eigenen Geschichte auseinandersetzen können, wenn sich ein Gefühl der Gerechtigkeit einstellt, dass eben auch die Verbrechen der „anderen“ an die Öffentlichkeit gelangen, kritisiert und in gleichem Umfang sanktioniert werden wie die „eigenen“. Dies wurde in allen Balkankriegen seit 1991 bis zuletzt im Kosovo/Kosmet-Konflikt 1999 versäumt.

Ich würde mir wünschen, dass der Journalismus zumindest jetzt, gut drei Jahre nach dem letzten bewaffneten Konflikt auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien wieder kritischer und besonnener wird. Besonders von Herrn Rathfelder erwarte ich eine differenziertere Sichtweise und keinen zusätzlichen Meinungsartikel, der sich dieses verhängnisvollen Musters bedient.

LILLI IVANIĆ, Politologin aus Tübingen