: Vom Spiegel zur Videokamera
Das Literaturhaus hat Jonathan Franzen eingeladen, aus seinem Roman „Die Korrekturen“ zu lesen – und veranstaltet das Ganze lieber im viel größeren Curiohaus
Darauf hatten Kritiker und Verleger schon lange gewartet: ein Roman, der literarischen Anspruch und Unterhaltung versöhnt. Jonathan Franzens dritter Roman eroberte nicht nur weltweit die Bestsellerlisten, er war zugleich das Lieblingsobjekt der Feuilletons im Frühsommer. Passenderweise war Die Korrekturen genau hundert Jahre nach der Famillienchronik Buddenbrooks erschienen.
Die Korrekturen erzählt anhand der mittelländischen Familie Lambert von Aufstieg und Fall in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Der im Ruhestand lebende Vater Lambert kann seinen Stuhlgang und zunehmend auch sein Gedächtnis nicht mehr kontrollieren. Seine Frau möchte daher noch einmal ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest mit ihren drei Kindern feiern. Die Aktien befinden sich im freien Fall, der Internetboom ist zuende, und das krampfhafte Festhalten an familiären Werten zerstört fast das konstruierte Idyll. Die seltsame Drogenpolitik von Kreuzfahrtunternehmen, aufgemotzte Sauerkrautgerichte in teuren US-amerikanischen Restaurants und der Verkauf Litauens an die Gläubigen des neuen Marktes bilden äußerst amüsante Nebenstränge der Geschichte.
Franzen beherrscht zwar die moderne Schreibweise Pynchons oder de Lillos, setzt sie jedoch nur punktuell ein. Sein auktorialer Erzähler schwingt sich im Stile der Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts über die Figuren und beschreibt in mehreren langen Kapiteln, den einzelnen Familienmitgliedern gewidmet, das Scheitern des amerikanischen Traums.
Stendhal erklärt in seinem Gesellschaftsroman Rot und Schwarz, ein Roman sei ein Spiegel, den man eine Straße entlangträgt. Bei Franzen verwandelt sich dieser Spiegel in die Videoüberwachungsanlage eines der Lambert-Enkel. Heute Abend liest Franzen im Curiohaus, den deutschen Part wird Ulrich Matthes übernehmen.
Nikola Duric
heute, 20 Uhr, Curiohaus, Rothenbaumchaussee 11; J. Franzen, Die Korrekturen, Rowohlt, 780 S., 24,90 Euro
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