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Wilde Schatten über M.

Eine schrecklich geistreiche Gespenstertagung im Westfälischen

Jüngst, als die ersten Nebel über die Weiden wallerten, verließ ich das uninspirierte Berlin und begab ich mich in die kleine westfälische Stadt M. zu einer wissenschaftlichen Tagung. Im Geiste der Aufklärung auferzogen, erschien mir die kurzzeitige Beschäftigung mit der Nachtseite der Natur nicht weiter bedrohlich, denn nichts anderes ließ der Titel des Kongresses erwarten als „Gespenster“.

Erwartungsfroh nahm ich im neugotischen Vortragssaal Platz, wo gerade ein Exil-Österreicher verschiedenene traditionelle Geisterlehren darlegte und in Sonderheit den Unterschied von schmutzigen Dämonen und reinen Engeln recht klar herausarbeitete. Freilich glaubte der Herr nicht an reale, sondern nur an metaphorische Gespenster – da waren wir schon einmal zwei. Nach sterbenslangweiligen Vorträgen über verschiedene Geistererscheinungen in Schwaben, in denen unablässig ein gewisser Amtsarzt zitiert wurde, nach dem eine Rebsorte benannt ist, eröffnete uns ein Swedenborgianer die Türen zum weltumspannenden Himmelreich. Dieser kleine, quirlige Mann, dessen Haare so weiß waren wie dies des Alten in Poltergeist II, beseitigte letzte Zweifel an der Lebensweise nach dem Tod. Man werde, prophezeite er, in Häusern leben, gehe wieder dem Berufe nach und heirate sogar erneut, wenn man dies wünschte. Alles wäre wie zuvor! Eine grauenhafte Vorstellung.

Während die guten Geister der Tagung Kaffee und feinstoffliches Gebäck herumreichten, musste ich mich, um der schlierenhaften Trübung meines positivistischen Weltbildes entgegenzuwirken, mit der Beobachtung der Tagungsteilnehmer erfrischen. Insbesondere fiel mir hierbei ein okkult dreinblickender Mann im Lodenmantel auf, der an der Zahl 23 einen Narren gefressen hatte: 23 Tagungsteilnehmer zählte er und sagte jedem, dessen Geburtsdatum die Quersumme 23 aufwies, selbiges ungefragt auf den Kopf zu. Auch ein medial veranlagter Doktor aus Rostock erweckte meine Aufmerksamkeit mit der These, die momentan wiederauflebende deutsche Popliteratur sei das ektoplasmatische Resultat nachhaltig wirkenden westfälischen Regenzaubers.

Durch die Ankunft zweier Außendienstmitarbeiter des Freiburger Instituts für Experimentelle Parapsychologie, die wegen eines brandneuen zu untersuchenden Wasserspuks im Eigenheim eines Detmolder Hallenbademeisters nicht früher hatten erscheinen können, gewann ich wieder etwas Zutrauen in die physikalische Welt. Auch trug ein Fachmann für Geisterfotografie nach der Kombinationsmethode von Schrenck-Notzing und Stuckrad-Barre zur Erheiterung bei, führten seine angeblich geistreichen Diapositive dem Publikum doch nur Schwärze vor Augen. In der siebenten Nacht endlich, nach theoretischem Herumirren in der Leere kantischer und altmarxistischer Gespensterräume, fand eine Nachtwanderung durch M. statt, bei der man Pumpernickel aß und Korn aus Löffeln trank. Das bestellte Gespenst aber zerriss sich beim Sprung über den Kirchhofszaun unglücklich das Laken. Ohne Trinkgeld musste es den Rückzug antreten.

Nach dem anschließenden spiritistischen Tischrückexperiment in einem Traditionswirtshaus, bei dem nur mehrere hohe römische Zahlen auf Bierfilzen erschienen waren, ging die Tagung ebenso plötzlich wie eklatant zu Ende: Die Voodoo-Expertin schlurfte mit zombiehaften Schritten durch die Saalwand ab, der Swedenborgianer fuhr lotrecht durch die Decke zum reinigenden Fixsternhimmel hinauf, während sich der Geistermarxist in ein schales Nebelgrau mit den Konturen von Plumpudding verwandelte. Auch die restlichen Tagungsteilnehmer lösten sich schnurstracks mit mehr oder minder paradigmatischen Begleitphänomenen in schreckliches Wohlgefallen auf. Der Exil-Österreicher, den ich für etwas metaphorischer gehalten, ließ noch ein teuflisches Lachen hören, wie aus einer leeren Badewanne. Für kurze Momente sah man die Entschwundenen draußen über dem nächtlichen Marktplatz von M. zu einem wilden Heer vereint mit lautem Dröhnen in den kalten Oktoberhimmel preschen. Dann war es dunkel und still.

Zitternd blieben außer mir nur die Geisterjäger aus Freiburg zurück. Resigniert verpackten sie ihre Messgeräte. Keine Stunde länger wollten sie verweilen und reisten in der Nacht noch ab. Auf dem Polaroid war bloß eine wilde „23“ zu erkennen. Zur Bewertung und Bilanzierung der Ereignisse in M. – darüber zumindest herrschte objektives Einvernehmen beim Abschied – sind die Fahrtkostenabrechung und das Erscheinen des Sammelbandes abzuwarten. TOM WOLF

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