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Erst lässig, dann nachlässig

Nach anfänglicher Dominanz, gar verschrecktem Schweigen der gegnerischen Fans hat es schließlich nicht mehr gereicht: Werder spielte gegen Hannover 96 vier zu vier. Neu: Die Bremer sind selbstverliebt

In Bedrängnisgeraten durch aggressives ForecheckingWas doch noch durch den Strafraum segelte, pflückten die Langen sicher runter

Obwohl dieses Lokalderby die dramatischen Höhepunkte in den letzten zehn Minuten hatte, enthielten bereits die ersten Szenen auf Bremer Seite alle spielentscheidenen Merkmale: neue Tugenden und alte Schwächen.

Werder begann, als sollte den 48.000 Zuschauern am Samstag in Hannover mit aller Deutlichkeit gezeigt werden, welche Mannschaft es eigentlich wert wäre, Gastgeber bei einer Fussballweltmeisterschaft zu sein. Im Stile einer Heimmannschaft errangen die Grün-Weißen sofort Dominanz im Mittelfeld, dass in der Zentrale überraschend vom wieder genesenen Frank Baumann verstärkt wurde, während Lisztes und Micoud den Gegner von den Flügeln aus in die Zange nahmen.

Der Ball lief in den ersten Minuten so sicher durch die eigenen Reihen, dass die Bremer Anhänger großzügig über Ailtons bereits in der ersten Minute nach genialem Lisztes-Pass vergebene Großchance hinwegsehen konnten.

Ermutigt von der Ballfertigkeit seiner Vorderleute überschätzte Keeper Pascal Borel in der sechsten Minute seine Schusstechnik und drosch den bereits abziehenden Hannoveranern den Ball direkt vor die Füße. Nur zwei Pässe und einen Beinschuss später musste Werders Unglücksrabe das erste Mal den Ball aus dem Netz holen.

Da war sie wieder, die alte Bremer Schwäche, in der Vorwärtsbewegung fehlerhaft abzuspielen. Aber statt nun, wie so oft, in Lethargie zu verfallen, nahm die Mannschaft den spielerischen Faden sofort wieder auf. So wurde kurz darauf Micoud auf dem linken Flügel geschickt freigespielt und konnte in aller Ruhe Verlaats Kopf anvisieren.

Damit wäre die Geschichte der ersten Halbzeit fast erzählt: Werder behielt die reifere Spielanlage, blieb optisch überlegen, brachte sich aber durch Nachlässigkeiten im Aufbau immer wieder selbst in Schwierigkeiten.

So wunderte es auch niemanden, als den Hannoveranern bei einem Konter in der 39. Minute wiederum nur drei Stationen reichten, bis Idrissou frei vor dem leeren Tor stand und das 2:1 erzielte.

Die zweite Halbzeit eröffnete Werder mit einer kleinen taktischen Änderung, die sofort große Wirkung zeigte: Johan Micoud, an dem das Spiel bis dahin trotz einiger starker Pässe oft vorbeigelaufen war, rückte zentral hinter die Spitzen. Bereits vor der Pause hatten Ailton und Charisteas die Hannoveraner Abwehr durch aggressives Forechecking mehrfach in Bedrängnis gebracht.

Als Abwehr-Recke Carsten Linke sich nun aber bei einem Klärungsversuch gleich von drei Bremern umzingelt sah, überließ er Ailton, der nur noch einzuschieben brauchte, fast freiwillig den Ball. Dies war die Initialzündung zu einem 30-minütigen Werder-Festival.

Das Angriffs-Dreieck durchkreuzte und umkurvte die gegnerische Abwehr mit steigender Spiellaune, Baumann und Ernst gewannen im Mittelfeld fast jeden Zweikampf und was doch noch in den Werder-Strafraum segelte, pflückten die Langen Verlaat, Krstajic und Borel sicher runter. Die Treffer durch Micoud und Charisteas waren die logische Folge dieser Mischung aus Spielfreude, Einsatz und Abgeklärtheit.

Nichts schien auf eine erneute Wende in diesem Spiel hinzudeuten, selbst die 96-Anhänger schwiegen ihre „Rote Liebe“ an und überließen den 5.000 mitgereisten Bremer Fans kampflos die Geräuschkulisse. Doch langsam schlich sich ein bisher unbekanntes Laster ins Bremer Spiel: Selbstverliebt ließ man den Ball mitunter über sechs bis acht Stationen direkt durchs Mittelfeld ziehen, ohne damit noch einen Effekt zu erzielen. Besonders bei dem großartigen Johan Micoud wurde in dieser Phase aus Lässigkeit Nachlässigkeit.

Das änderte sich auch nach dem – trotz allem überraschenden – Anschlusstreffer durch den neuen 96-Helden Fredi Bobic nicht. Statt in den letzten zehn Minuten den Vorsprung gegen eine wachgerüttelte Mannschaft und euphorisierte Zuschauer zu verteidigen, lief eine sich überschätzende Bremer Mannschaft ins offene Messer und konnte letztlich froh sein, noch einen Punkt mit nach Hause zu nehmen. Werder-Trainer Thomas Schaaf sprach nach dem Spiel von „einer gerechten Strafe“ für das überhebliche Auftreten in der Schlussphase. Aber auch der Schuss Arroganz, der den Bremern in der AWD-Arena letztlich zum Verhängnis wurde, musste erst mal erarbeitet werden. Die halbe Stunde nach der Halbzeit hat gezeigt, dass die Mannschaft lange nicht mehr so viel Substanz hatte wie in dieser Saison.

Ralf Lorenzen

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