: Recherchen in realen Tragödien
Was ist eigentlich los? Beim 45. Leipziger Festival für Dokumentations- und Animationsfilme wurden Filme über schreckliche Familiengeheimnisse, ostdeutsche Dörfer sowie die letzten Hirten im Luzerner Hinterland mit Preisen bedacht. Und der Polizist im Festivaltrailer lächelte nachsichtig dazu
von DETLEF KUHLBRODT
Am Ende weinten die Preisträger sogar ein bisschen. Plötzlich fiel einem wieder der animierte Festivaltrailer ein, der ständig in den Straßenbahnen lief: Da streifte ein kleiner Junge mit einem Kameramann durchs nächtlich menschenleere Leipzig, er hatte ein Kästchen dabei. Plötzlich Polizeisirenen. Unerschrocken wurde ein Film eingelegt; Tauben stiegen auf, Fenster verwandelten sich in Zelluloidstreifen, und ein gemütlicher Polizist, der nach Augsburger Puppenkiste aussah, schüttelte am Ende verständnisvoll lächelnd seinen Kopf. WARUM SCHÜTTELT DER POLIZIST SEINEN KOPF?
Wahrscheinlich sollte es die Staatsmacht sein, die das Subversive der Dokumentarfilmschaffenden lächelnd duldet: Ein Ausdruck der gängigen Annahme, das Dokfilmgenre sei an sich schon kritisch, zerreiße die Schleier ideologischer Verblendung, gebe zu sehen, „was wirklich los ist“, wie es auf den Festivalplakaten heißt. Aber was ist wirklich los?
Das Filmen eines Schlachthofes – wie in „Bauernkrieg“ (1998) von Erich Langjahr – nimmt notwendig Partei gegen die Massentierhaltung. Ein Film über den Tschetschenienkrieg („Gefangen im Kaukasus“ von Jurij Chaschtschevatski) nimmt notwendig Partei gegen diesen – auch wenn der Regisseur meinte: „Ich pfeife auf alle Resonanz. Ich mache Filme nur für mich.“
Bei Familienfilmen ist es schon schwieriger. Bei einigen dieser Filme scheint die Kamera die sprechenmachende Rolle des Therapeuten zu übernehmen, und wenn der Film die engen Grenzen der Kleinfamilie nicht verlässt, ist man als Zuschauer oft genervt.
Michael Gaumnitz’ „Exil in Sedan“ ist anders. Es geht um den verstorbenen deutschen Vater des 55-jährigen Regisseurs, der nach dem Krieg nach Sedan zog. Ein Familientyrann, traumatisiert, wie man sagt, von seiner Zeit im KZ; einmal zwang er seinen Sohn mit einer Schweinsmaske durch den Ort zu laufen. Schweine sind das Symbol der deutschen boches. Vor dem Krieg hatte der Vater Menschen gemalt; nach dem Krieg nur noch Tiere, und er verbot seinem Sohn das Zeichnen. Bei seinen Recherchen entdeckt der Sohn das schreckliche Geheimnis des Vaters, der vom Opfer zum Täter geworden war.
Der Berliner Filmemacher Thomas Heise dagegen hat in seinem 98-minütigen Film „Vaterland“ ein ostdeutsches Dorf in der Nähe eines verlassenen Militärflughafens und seine Menschen porträtiert. Am Anfang und am Ende wird ein berührender Briefwechsel von 1944 zwischen einem Vater und seinen zwei Söhnen, die im Arbeitslager sitzen, zitiert. Weil nicht erklärt wird, was die Briefe mit dem Film zu tun haben, wirken sie wie ein weihevolles Ornament.
Die Menschen in „Vaterland“ wirken deprimierend. Heise lässt sie reden, entnervend lange, ohne sie zu unterbrechen. Oft können sie sich nicht ausdrücken, ihnen fehlen die Worte oder sie haben nichts zu erzählen außer das Nächstliegende. Das Dorf wirkt eng. Die Kinder sind alles. Jeden Abend sitzen ketterauchende Männer in der Kneipe. Das Haus des Mannes, dem die Frau davongelaufen ist, ist ordentlich renoviert. Im Engels- und Weihnachtsmannkostüm singen zwei „Aber heitschi bumbeitschi bumbum“. Ein geschiedener Mann, der lange wegen Totschlags im Knast war, sagt ständig über seine dreijährige Tochter, „aber sie muss funktionieren“, und dass er sie nicht schlägt, sondern nur anbrüllt, wenn sie nicht funktioniert. Der Film ist ermüdend lang, und manchmal hat man den Eindruck, Heise benutze seine Protagonisten, mache es sich zu einfach, wenn er immer so tut, als sei er nicht da. Der formal recht schöne Film erscheint einem jedenfalls recht fragwürdig.
Im Gegensatz zu Heise erzählt Erich Langjahr in seinem zwischen 1994 und 2001 gedrehten Film „Hirtenreise ins dritte Jahrtausend“ von einer Existenzform, die im Verschwinden begriffen ist. Als Ethnograph berichtet er von Hirten, die wie Thomas Landis mit 400 Schafen, zwei Eseln und drei Hunden im Luzerner Hinterland von November bis in den März unterwegs sind. Die Landschaftsaufnahmen sind oft wunderschön und werden von Schnellstraßen unterbrochen. Der Klärschlamm auf den Wiesen bekommt den Schafen schlecht. Der Film gewann den Hauptpreis.
Was ist wirklich los? Das Amt für Umweltschutz weiß es und informiert auf einer elektronischen Tafel in der Innenstadt halbstündlich über die „Schadstoffsituation“. NO2, SO2, O3, Benzol. Zahlen stehen da. Nur weiß man leider nicht, was die Zahlen bedeuten.
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