Die Wurzel aus Rock

Wie gut, dass es ihn gibt: In Berlin demonstrierte Bruce Springsteen, dass er noch gebraucht wird – zumindest von seinen Fans –, und ließ während seines dreistündigen Konzerts keine Wünsche offen

von GERRIT BARTELS

Man meint die Freude und die Erleichterungsseufzer mitsamt den Ausrufezeichen förmlich mit den Händen greifen zu können, als Bruce Springsteen an diesem Sonntagabend mit seiner E-Street-Band die Bühne der Berlin-Arena betritt. Wie gut, dass es ihn gibt! Wie gut, dass er zurück ist und einmal mehr beweist, was die Wurzel aus Rock ist! Wie gut, dass er in seinem Auto sitzend den Menschen erhörte, der ihm kurz nach dem 11. 9. auf einem Parkplatz in New Jersey zurief: „Bruce, wir brauchen dich jetzt!“

Natürlich wird er in Deutschland anders gebraucht als in den USA, wo sein neues Album „The Rising“ der 9/11-Trauerarbeit diente. Hier geht es mehr um Freundschaft fürs Leben, ums gemeinsame Pferdestehlen und dass die guten Kerle mit dem Herzen am richtigen Fleck nicht aussterben dürfen. Sag ja zum Leben, egal wie es sich anfühlt!

So reicht allein das nach und nach erfolgende Erscheinen der neun E-Street-Bandmitglieder und schließlich Springsteens, um die 12.000 Menschen völlig aus dem Häuschen geraten und ihr lang gezogenes „Bruuuuce“ ausrufen zu lassen. Warm gespielt werden muss hier niemand. Dasselbe gilt für Springsteen und seine Band: Als würden sie noch in Bologna auf der Bühne stehen, so legen sie sich von Beginn an ins Zeug. Als gäbe es keinen Anfang und kein Ende, so spielen sie sich durch den Opener „The Rising“ und lassen New York, die Sonne und sich selbst wiederauferstehen: Bruce Springsteen mit geschlossenen Augen und angespannter Miene Kopf an Kopf mit Little Steven am Mikro, seine Frau Patty Scialfa mit Nils Lofgren und Gray Tallent Seite an Seite in klassischer Rockerstellung, und dazwischen und überall Saxofonist Clarence Clemons. Zehn Minuten mindestens dauert dieses aufschäumende Stück, und die nachfolgenden Stücke scheinen nicht weniger lang geraten zu sein.

Natürlich gibt es auch Breaks und Momente der Andacht: Zu „Empty Sky“ verschwindet die Band, Springsteen legt die Finger an den Mund, pssst!, und er und Scialfa singen allein und im Dunkeln das Stück über die orientierungs- und WTC-losen New Yorker. Es heißt, in sich zu gehen und mitzufühlen. Später wird Springsteen noch zwei quälend lange Stücke solo am Piano spielen. Allerdings weiß er auch, dass der Seelenzustand des deutschen Publikums ein anderer ist als der des amerikanischen und die meisten eben auch gekommen sind, um ihn rocken zu sehen: Let’s rock, let’s have a party! heißt es auf einem weißen Plakat, das mehrere Leute im Innenraum hochhalten. Sie bekommen, was sie erwarten: eine Party und ordentliche Rockarbeit. Eine Mischung aus „Ernst bei der Arbeit und fröhlich beim Spiel, immer frisch munter, so kommst du ans Ziel“.

Springsteen verzichtet größtenteils auf überflüssigen Animationstalk und wandert mit der Gitarre auf dem Rücken die Bühne rauf und runter. Er steigt auf das Piano, entledigt sich seiner Weste, rutscht direkt vor dem Publikum auf dem Hosenboden entlang und läuft nach hinten, damit auch das Publikum direkt hinter der Bühne Teil dieser Rockshow sein darf. So suggeriert er Nähe, die keine mehr ist, da sie nur noch medial über die vielen Monitore in der Halle vermittelt wird. So lässt er für Momente vergessen, dass zu Beginn darauf hingewiesen wurde, die Handys auszuschalten und das Fotografieren sein zu lassen. Hier drinnen ist die Show, hier ist Springsteen, draußen ist das Leben.

Fast drei Stunden verfolgt man ein Konzert, das solide und korrekt ist und keine Wünsche offen lässt, das aber auch völlig ohne Geheimnisse ist. Ein Konzert, das demonstrieren soll: Springsteen ist der Hauptdarsteller, ohne seine E-Street-Band aber ist er nichts. Zehn Freunde müsst ihr sein! So klopfen sie sich alle gegenseitig auf die Schultern beim erstmaligen Verlassen der Bühne: Gute Arbeit, Frau Scialfa! Fein gemacht, Herr Clemons! Als schließlich im Zugabenteil die Klassikabteilung folgt, „Dancing In The Dark“, „Born To Run“, „Born In The USA“ und mehr, ist sonnenklar: Der Bruce hat sie alle wieder glücklich gemacht, der kann in seinem Rockerleben nichts mehr falsch machen: Er ist ein Star für die Ewigkeit. Was man aber auch weiß: Man muss kein Springsteen-Fan sein, um Rockmusik zu lieben.