strübel & passig
: Wenn der Reis rieselt

Wenn in China ein Sack Reis umfällt, ohne dass jemand dabei ist – macht der fallende Sack dann ein Geräusch? Grimmige Skeptiker werden einwenden: „Falsche Frage! In China ist doch immer jemand dabei, da sind doch so viele! „Oder auch: „Unfair! In China hören sowieso viele Leute schlecht, alles Schlitzohren!“

 Aber das ist mir gleich. Von mir aus kann jeder zweite Erdenbürger zum harthörigen Berufschinesen werden. Das macht meine Metapher jetzt auch nicht mehr besser. Da muss ich jetzt durch.

 Deshalb weiter im Text: Schon lange Zeit machte ich mir Gedanken über digitale chinesische Reissäcke – liebevoll geschmacklos gestaltete Webpages, die keiner lesen will, kleine, bestenfalls zur Hälfte gefüllte Leinenbeutel, die reihenweise umfielen, und keinen kümmerte es. Dann fingen manche Leute an, ihre Säcke täglich und sogar gleichzeitig umzuwerfen. Heraus kamen www.blogger .com und andere Portale für die online geführten Tagebücher dieser Welt. Und plötzlich horchten alle auf.

 Der Durchbruch sei das, die endgültige digitale Revolution, schrieben die Feuilletons – mal wieder. Endlich sei das Publishing hart durchdemokratisiert. Denn nun könne jeder, ohne jegliches Wissen um HTML oder andere unwesentliche Dinge, jeden Scheiß ins Netz stellen.

 Pardon, es muss natürlich heißen: Sie können alles veröffentlichen, ohne vom Herrschaftswissen von Fachleuten daran gehindert zu werden, die mutmaßlich im Dienst profitgieriger Konzerne oder staatstragender Institutionen stehen. Und sie können das täglich. Wichtige Botschaften von unwichtigen Leuten!

 Und wer glaubte, nicht jeder habe tatsächlich eine Botschaft zu verkünden, wurde schnell eines Besseren belehrt: „Heute wieder mit dem Hund draußen gewesen.“ „Went to Little India today. […] Saw the prostitutes. Saw the sex toys. Gross!“ „Montag einen Kuchen gebacken um die Schwiegerleute zu beeindrucken – ich glaube es hat funktioniert!“ Muss so viel Demokratie wirklich sein? Und was sagen die Chinesen dazu?

 Da lob ich mir die wahren Zen-Veröffentlichungen, die Sinnsuche im Sinnlosen: Texte, die nur um ihrer selbst willen geschrieben werden und ebenso gut in der Schublade verrotten könnten. Texte, so tiefgründig wie „Ihr Name auf einem Reiskorn“. Etwa die Briefe an J. D. Salinger, die unter members.aol.com/ jdsletters /guest.html gesammelt werden (ja, ich weiß, eine AOL-Seite, aber es ist ja für einen guten Zweck). „Lieber Mr Salinger, beantworten Sie mir doch gerade mal ein paar Fragen über Ihre Mutter.“ Oder die Wortdefinitionen auf www .mariahcarey.com – einer Welt, die sicher niemand betreten möchte. Trotzdem teilt Frau Carey tapfer mit, dass sie Menschen gerne „Lamb“ oder auch, vertraulicher, „Lamby“ nennt. Solch meditative Leere wird den Verstand der angeschlagenen Diva sicher bald zurück in den Kochbeutel der psychischen Gesundheit rieseln lassen.

Freilich, das will ich nicht verschweigen, existieren auch Webtagebücher, die schon im Ansatz mit einer gewissen Grundfaszination aufwarten, etwa das Blog-Haus eines Obdachlosen: thehome lessguy.blogspot.com, inkl. professionellen Schnorrens per PayPal. Oder das Blog von „Old Fart“, das sich ausgerechnet über Hämorrhoiden auslässt. Selbst Else Buschheuer (www.buschheuer.walka.de/DE/) bloggt wie bescheuert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Dieter Bohlen sich einen Ghostblogger zulegt.

 Keine Frage, das Internettagebuch ist salonfähig geworden. Wie man hört, will der Stern in Kürze erste Auszüge aus Hitlers willigem Weblog veröffentlichen. Das soll angeblich in China gefunden worden sein. Als ein Sack Reis umfiel.

IRA STRÜBEL

ira@copysqad.com