: Welt neu gedichtet
Lucien Hervé sucht neue Strukturen hinter dem scheinbar Offensichtlichen: Deichtorhallen präsentieren erste große Werkschau des Fotografen
von PETRA SCHELLEN
Er boxt sich seine Welt zurecht. Hält die Betonsäule gegen den Himmel, stellt ein paar Zinnen dazu, dazwischen großflächig Reinweiß – fertig. Oder er drapiert ein Mädchen auf einem Treppenabsatz und degradiert es zur Dekoration eines Fotos, an dem nur die Struktur interessiert: Lucien Hervé hat nichts übrig für klassisch-brave Sehgewohnheiten, sondern ordnet lieber selbst, was er sieht.
Aus Ungarn stammt der 1937 nach Paris emigrierte, inzwischen 92-jährige Hervé, der lange als Fotoreporter arbeitete, 1949 Hausfotograf Le Corbusiers wurde und auch für Architekten wie Alvar Aalto, Marcel Breuer, Kenzo Tange und Oscar Niemeyer fotografierte. Die bundesweit erste große Retrospektive bieten derzeit die Deichtorhallen unter dem Titel Architektur des Bildes – ein Motto, das akkurat die Verschränkung der Genres zeigt, die Hervé gekonnt praktiziert.
Das Interesse an Strukturen trieb Hervé allerdings schon früh um: Bereits in der Serie Paris, von meinem Fenster aus gesehen (1947) richtet er den Blick dreist auf den blanken Bürgersteig; Radler sind wie zarte Kalligraphien aufs Pflaster getupft. Und auf einem Siena-Foto (1949) korrespondiert das Muster der Nonnenkutte so akkurat mit dem des Doms, dass das einfach nicht ernst gemeint sein kann.
Denn ein bisschen persifliert Hervé auch seine Sucht nach Struktur, ohne allerdings davon lassen zu können: Ein Junge und eine Frau beleben ein Pariser Zugabfahrts-Foto von 1948; unscheinbare Szenerie. Und doch finden sich hier alle Elemente Hervéscher Großstadtwahrnehmung: Der Ein- wird gegen die Aussteigende gesetzt, die Hüte bilden bizarre Tupfer – Siglen eines heimlich erhoffen Gleichgewichts der Welt? Eisen und Stoff prägen das urbane Ambiente, dessen Formen und Rhythmen sich verselbständigt haben. Gestaltete Materie ist zur letzten Reminiszenz an den Homo sapiens sapiens geworden.
Und wenn Hervé sich auch nicht explizit kritisch äußert, schwingt doch leiser Zweifel am Nutzen Corbusierscher „Wohnmaschinen“ mit, wenn er 1955 im indischen Ahmedabad dessen Mill-Owners‘ Association ablichtet. Skepsis transportiert auch auf dem Foto der Unité d‘habitation in Marseille (1949) ein Arbeiter im Rohbau – hilfloser Statist einer toten Wohnidee. Beängstigend plastisch wirken daneben die Wohnkäfige, die an Mondriansche Kompositionen erinnern und ganz offen Konstruktivistisches zitieren.
Symmetrie behagt Hervé bei allem Funktionalismus übrigens nicht – ein Grund dafür, dass er immer verzerrte Perspektiven wählt und nie platte Gesamtaufnahmen präsentiert. In Finnland, Spanien, Indien hat Hervé fotografiert, doch plump vor der Monumentalität eines Werks verbeugen wollte er sich nie. Am Escorial interessiert ihn der verschattete Hof, am Eiffelturm der senkrecht in die Tiefe krachende Blick: Hervé plappert nicht die Welt nach. Er erfindet lieber sein eigenes Gedicht.
In die Zukunft fortschreiben wolle er die Dinge, hat er einmal gesagt, das Vorgefundene nur als Ausgangspunkt betrachten. Und tatsächlich verbirgt sich ein Quäntchen Romantik in dem kaum verhohlenen Wunsch, dass die Welt irgendwann ihr Geheimnis preisgeben möge. Hierarchisch denkt Lucien Hervé dabei übrigens nicht: Seit er schwer krank und fast bewegungsunfähig ist, sucht er seine Muster – Fotos von 2000 zeigen es – im Nahen, Unscheinbaren: in Teppich-, Laken- und Deckenmaserung seiner Wohnung. Verzweifelt? Getröstet.
Di–So 11–18 Uhr, Deichtorhallen; bis 12. Januar 2003
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