: Kühe heiliger als Menschen
In Indien zeigt ein Fall von Lynchjustiz nach angeblicher Kuhtötung, dass Kastenlose Freiwild sind. Jetzt wird ihnen der Ausweg des Religionswechsels verbaut
DELHI taz ■ Ist das Leben einer Kuh mehr wert als das eines Menschen? Die Antwort ist einfach, nimmt man die menschlich verordnete Rangordnung als Maßstab. Sie gilt trotz „heiliger Kuh“ auch für Indien. Doch denken so auch radikale Hindus? Am 15. Oktober wurde im Bundesstaat Haryana ein Lastwagen mit fünf Männern von der Polizei gestoppt. Sie transportierten – ganz legal – Kuhhäute in eine Gerberei sowie eine tote Kuh, die gehäutet werden sollte. Die Ladung stammte von „Gaushalas“, Altersheimen für Kühe, wo die Tiere eines natürlichen Todes sterben, weil in Haryana das Kuhschlachten verboten ist. Es ist unklar, warum die fünf zur Polizeiwache von Jhajjar gebracht wurden und warum sich das Gerücht verbreitete, sie hätten Kühe getötet. Vor der Wache versammelte sich eine aufgebrachte Menge, die die fünf jungen Männer herausschleifte und lynchte.
Die Rädelsführer gehörten den radikalen Hindu-Organisationen VHP und „Bajrang Dal“ an. Doch hinter der Lynchjustiz steckte mehr als blinde Gewalt. So ließ die Polizei zunächst nicht den Mord untersuchen, sondern die tote Kuh obduzieren. So sollte festgestellt werden, ob sie von den fünf getötet worden war, als würde dies das Verbrechen rechtfertigen. Tags darauf äußerte sich ein VHP-Spitzenfunktionär. Auf die Frage, ob er den Mord verurteile, sagte er: „Gemäß unseren heiligen Schriften ist das Leben einer Kuh sehr wertvoll.“ Es war, schrieb eine Zeitung, „ein Bekenntnis, dass das Leben einer Kuh wichtiger war als das von fünf Dalits“.
Dalits sind Unberührbare. In der auf ritueller Reinheit erpichten Hindu-Hierarchie verrichten sie die Drecksarbeit: Straßen reinigen, Kleider waschen, den Kot wegräumen, sich mit toter Materie abgeben – sei es das Beerdigen von Menschen oder das Häuten von Kühen. Gandhi hatte sie „Kinder Gottes“ genannt. Die Verfassung garantiert ihnen soziale und ökonomische Mobilität. Doch dies hat an ihrem Los nur wenig geändert. Inzwischen gibt es hochrangige Dalit-Politiker und Dalit-Millionäre, doch die Mehrheit der 250 Millionen Dalits wird weiter sozial ausgegrenzt und ist für viele Kasten-Hindus Freiwild. Für das Jahr 2000 registrierte ein offizieller Bericht 23.742 Gräueltaten gegen Dalits, davon über 1.000 Vergewaltigungen und 3.241 Morde.
Gemäß Hindu-Kodex gibt es für einen Dalit in diesem Leben keinen Ausweg aus seinem Schicksal, es sei denn, er sagt sich vom Hinduismus los. Der Dalit-Führer B.R. Ambedkar, ein Zeitgenosse Gandhis, wies diesen Weg, als er zum Buddhismus konvertierte. Viele indische Christen und Muslime waren einmal Dalits. Obwohl viele Brahmanen Dalits gar nicht als Hindus anerkennen und ihnen das Betreten von Tempeln verbieten, fürchten radikale Hindus dieses Schlupfloch.
Sie haben Angst, dass Konvertierungen die 82-prozentige Hindu-Mehrheit bald zur Minderheit machen. Am Sonntag vor einer Woche versammelten sich in einem Vorort Delhis 120 Personen, darunter die Familien der fünf gelynchten Männer, im „Lord Buddha Club“ und traten zum Buddhismus, Christentum und Islam über. „Wir wollen nicht einer Religion angehören, die das Leben einer Kuh höher wertet als das eines Menschen“, sagte der Vetter eines der Opfer. Ein anderer sagte: „Eher werde ich mein Leben opfern als wieder Hindu werden.“
Es war kein isolierter Protest. Im südlichen Tamil Nadu drohten zahlreiche Organisationen Massenkonvertierungen an. Eine Dalit-Partei schwor, ihre 20 Millionen Mitglieder zur Bekehrung aufzufordern. Der Anlass war nicht nur der Mord von Jhajjar. Vor kurzem hatte die Regierung von Tamil Nadu ein Verbot von „Zwangsbekehrungen“ erlassen. Freiwillige Konvertierungen sind zwar nach wie vor möglich. Aber da auch „Verlockung und Überreden“ als Zwang gelten, kann schon eine Armenspeisung oder die kostenlose Schule für Slumkinder als „Lockmittel“ zur Straftat verklärt werden.
Im südlichen Tamil Nadu wurden jetzt Massenübertritte verboten, und jede Bekehrung muss bewilligt werden. Für Dalits, Christen und Muslime verletzt dies das Grundrecht der freien Religionswahl und -verbreitung. Zudem „wollen Hindu-Fundamentalisten den Dalits den einzigen Ausweg aus dem sozialen Stigma versperren“, sagt Pater Emmanuel von der katholischen Bischofskonferenz in Delhi. Die dort regierende hindu-nationalistische Partei BJP will jetzt die Provinzverordnung in ein Bundesgesetz umwandeln und das Verbot aller Kuhschlachtungen durchsetzen. BERNARD IMHASLY
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