: Helm auf zur Gewissensprüfung
bernhard pötter über Kinder„Den Kindern ein Vorbild“ bedeutet manchmal, bei Rot über die Straße zu gehen. Orientierung zu geben ist ein Problem
Souverän und gelassen sah Ludwig XVI. an diesem 21. Januar 1793 seiner Hinrichtung entgegen. Der 39-jährige König Frankreichs war wegen Hochverrats zum Tod auf der Guillotine verurteilt worden. Er tröstete seine Familie, betonte in einer letzten Ansprache seine Unschuld – und zack. Das Volk jubelte, als der Henker der Menge das königliche Haupt zeigte. So berichtet es zumindest die Internet-Website historicum.net unter der sinnfälligen Rubrik „Köpfe der Französischen Revolution“.
Jonas schaut zu mir auf, als würde auch ihn gleich das Fallbeil ereilen. Das Gesicht verzerrt, die Augen zugekniffen, der Mund ein dünner Strich. Er steht fast fertig in der Wohnungstür, wir wollen los. Was von oben auf ihn zukommt, ist zwar nicht das Messer, aber der Fahrradhelm. Zugegeben, wir haben ihm aus Versehen schon mal beim Zuschnappen des Helmgurts unter dem Kinn die Haut eingeklemmt. Okay, das tut weh. Aber muss er so tun, als stünde er auf dem Schafott?
Kaum ist der Helm zugeklickt (kein Unfall diesmal), öffnet er die Augen. „Papa“, sagt mein Sohn, „warum müssen Tina und ich Fahrradhelme aufsetzen, die kneifen, aber du nicht?“
Seufz.
Irgendwann musste die Frage ja kommen. „Weil ich schon so lange Fahrrad fahre und weil ich weiß, was ich bei einem Unfall machen muss“, sage ich lahm. Dann wechsle ich schnell das Thema. Aber Jonas hat natürlich Recht. Bei meinen Kindern achte ich darauf, dass sie gut behütet aufs Fahrrad steigen. Und selbst trage ich höchstens ein Basecap. Ein schlechtes Vorbild.
Ich habe nicht mal die Ausrede, dass ich keinen Helm habe. Er liegt auf dem Schrank und setzt Staub an. Vor langen Jahren haben mein Bruder Georg und ich uns bei einem Urlaub in Kanada Fahrradhelme zugelegt. Georg trat sein Trekking Bike von Los Angeles nach San Francisco, quer durch die kanadische Steppe und von Chicago nach New York. Ich fuhr derweil unser Auto zu Schrott.
„Den Helm setze ich erst auf, wenn ich meinen ersten schweren Unfall hatte“, sagte Georg. „Die Friedhöfe sind voll mit Leuten, die diesem Motto gefolgt sind“, sagte ich. Mir leuchtete damals der Werbeslogan des Helmproduzenten ein: „If you had some brains, you would protect them.“
Aufgesetzt habe ich meinen Helm trotzdem nie.
„Man kann von Kindern nur verlangen, was man auch selber macht“, sagt meine Frau Anna. „Sonst funktioniert das nicht. Wer selber raucht, kann Kinder nicht zu Nichtrauchern erziehen.“ Auskuriert hat Anna ihre Schokoladensucht allerdings nicht, sondern die Zuckerorgien auf die Abendstunden verlegt. Und einen Fahrradhelm besitzt sie nicht einmal.
Wer eignet sich überhaupt zum Vorbild? Glaubt man dem Erzbischof von Salzburg, qualifizieren sich für den Job vor allem Mutter, Vater, Großeltern, Jesus. In dieser Reihenfolge. Das freut Eltern.
Vor knapp zwanzig Jahren wurde uns von Bundeskanzler Kohl – nicht nur für Roland Koch ein Vorbild – der jugendliche Wimbledon-Sieger Boris Becker als Vorbild für die Jugend präsentiert. Das passte in Kohls Gerede von „Leistung muss sich wieder lohnen“. Diese beiden großen Vorbilder haben sich inzwischen nur mit Mühe, viel Geld und jeder Menge diskreter Kontakte vor dem Knast gerettet.
Auch andere Leitfiguren sind mit Vorsicht zu genießen. Immerhin spuckt die Internet-Suche unter dem Stichwort „Vorbilder der Deutschen“ auf den zwei prominentesten Fundstellen das Geschwurbel von National-Zeitungs-Schreiber und Ex-DVU-Vorbild Franz Schönhuber aus.
„Den Kindern ein Vorbild: Nur bei Grün!“, steht an der Ampel, über die wir jeden Morgen zum Kindergarten gehen. Dagegen kümmerte sich mein Kollege D., für mich wegen seiner journalistischen Leistungen und seines Erziehungsurlaubs schon vor Jahren eine Art Vorbild, herzlich wenig um das rote Licht. Und er hatte eine gute Begründung: „Die meisten Kinder sterben bei Verkehrsunfällen, wo sie grünes Licht hatten und von Abbiegern überfahren werden. Die Kinder müssen schauen, ob die Straße frei ist. Dann können sie meinetwegen auch bei Rot gehen.“
Und wer ist nun das große Vorbild meines Sohns? „Jonas, wen findest du so toll, dass du auch mal so werden willst?“, fragt der Vater in mir und hofft auf eine Antwort nach dem Geschmack des Erzbischofs von Salzburg. Jonas denkt nicht lange nach: „Olli Kahn!“
Olli Kahn? Wenn Jonas den Super-Goalie beerben will, braucht er den Körperteil zwischen seinen Ohren ja nicht einmal zum Kopfballspielen. Vielleicht sollte ich doch nicht so streng sein bei der Helmpflicht.
fragen zu kindern?kolumne@taz.de
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