: Abiloch – das Loch am Tag danach
Was tun, wenn die letzte Prüfung vorbei ist? Eine Reise in die tiefen abiturialen Gefilde der Schülerin Sophie P. aus B.:Wenn dieses Dilirium der Abifeierlichkeiten verflogen ist, kommt der Kater. Der Abi-Kater führt direkt ins Abiloch
Maistimmung. Sophie hat ihr Abi. Auf dem Schulhof werden Matheklausuren unter Jubelschreien verbrannt. Menschen, die sich drei Jahre aus dem Weg gingen, verspüren ein wunderliches Gefühl der Zuneigung und liegen sich juchzend in den Armen. Sie sagen merkwürdige Sätze wie: „Mensch, schade, dass wir nie was miteinander zu tun hatten.“ Und äußern skurrile Vorschläge wie: „Ey, lass uns aber auf jeden Fall Kontakt halten!“ In all dem Taumel fällt natürlich auch die für Sophie bald verhasste Abi-Was-Nun-Frage: „Und? Was hast du jetzt vor?“ „Ach, das weiß ich noch nicht so genau. Erstmal feiern, in Urlaub fahren“ und nicht an Zukunftspläne denken.
Endlich dem Gehäuse aus Fremdbestimmung, Langweiligkeiten und Klausurenterror entkommen, befindet sie sich in der Sphäre der Freiheit, im glitzernden Reich der Möglichkeiten und landet gerade deswegen in der dunklen Höhle der Orientierungslosigkeit. Was soll sie mit der Freiheit bloß anfangen? „Jetzt, wo ich alles machen kann, was ich will – was will ich denn überhaupt?“ Das Thema Zukunft steht nicht mehr vor der Tür, sondern im Zimmer und nimmt Sophie ins Kreuzverhör. Was ist mit Studieren? „Nee, jetzt ist erstmal Schluss mit lernen.“ Ausland? „Ja, irgendwie schon, aber wohin, was und wie überhaupt?“ Praktikum? „Klar, aber darum hätt‘ ich mich ja schon viel früher kümmern müssen.“
Was ist nur los? Die Schule hatte sie eingewebt in regelmäßige Tages-, Monats-, ja Jahresabläufe. Diese gewohnte Lebensstruktur fällt weg. Statt des 14. Schuljahres steht alles vor ihr. Also nichts. Sophie hängt in der Luft und ist bereit für den freien Fall. Sie muss ihr Leben ganz neu planen und ist damit überfordert. Das hätte sie sich längst selber beibringen müssen, denn die Schule beschäftigt sich nicht mit dem Fach Zukunft. Hätte sie sich wenigstens spezialisiert wie Peter, der seit 8 Jahren den PC zum festen Freund hat. Nein, sie strahlt in alle Richtungen und somit ist keine wirklich etwas für sie. Herrje, das hatte sie sich alles einfacher vorgestellt.
Also verschiebt Sophie ihre Lebensplanung so lange auf Morgen, bis sie sich erfolgreich an den Abgrund des Abiloches geschoben hat und schließlich hineingleitet in jene zähe Sülze aus Rat- und Hoffnungslosigkeit, gewürzt mit Lethargie, einer Prise Verzweiflung und der Unfähigkeit, diese Situation zu ändern. Anstatt etwas auszuprobieren, frönt sie dem Selbstmitleid, wartet ungeduldig auf Donatella Versaces persönlichen Anruf mit der Bitte, in Mailand als Praktikantin einzusteigen. Als jener ausbleibt, wünscht sich Sophie, ein Junge zu sein und ihren Zivi machen zu müssen. Nicht um des Zivis willen, sondern damit sie die Lebensplanung schön weiter hinausschieben kann. Später entdeckt sie den Zauber von Omas Zeiten und wünscht sich sehnsüchtig, auch in Fußstapfen treten zu müssen. Da hat Mutti jahrelang gekämpft, nichts Solides werden zu müssen und Fräulein Tochter? Undankbare Brut!
Als ob diese gedanklichen Labyrinthe nicht reichen, um sich schlecht zu fühlen, wird Sophie auch noch von netten Begegnungen auf ihre Lebenssituation hingewiesen. Das Grauen naht im geblümten Sommerkleid und nur weil man einen Jahrgang besuchte, nötigt es einen zum Nach-dem-Abi-Smalltalk. „Na, wie geht‘s?“ „Gut“, sagt Sophie, denkt natürlich miserabel. „Und? Was machst DU jetzt?“ Die verhasste Frage richtet ihr höhnisches Antlitz auf die Befragte. Du bist eben, was du machst. „Zur Zeit bin ich noch im Printmedienbereich tätig“, Sophie verteilt gelegentlich den Weser Report, „und ansonsten informier‘ ich mich und organisier‘ mir ‚n Paar Sachen.“ Sprich: Lebensplanung, keine Ahnung. „Und selbst?“ Schnell den Ball zurückspielen, damit Sommerkleid nicht nachbohrt und ins wahre Seelenleben vordringt. „Also, ICH ...“ ist der Startschuss, gefolgt von Praktika in Werbeagenturen, Marketingabteilungen, gekrönt von dem Schlusssatz: „Ja, und später dann irgendwas mit Medien. Das ist ja die Zukunft.“ Ah, ja, verstehe. Zukunft?
Zum Treffen der anderen Art kommt es in der Disko. An der Theke hält sich Ex-Bio-Nachbarin Anni an einem Bier fest und grüßt schwankend durch die Nebelschwaden. Ihr „Uuund? Was machse so?“ bahnt sich gnadenlos seinen Weg, während ihre glasigen Augen vergeblich probieren, Sophies länger zu fixieren. „Nich fragen.“ Entgegnet Sophie mit leidverzerrter Miene. Doch, nanu? „Och, weißte auuuch nich! Na, Gottseidank!“ Beidseitige Erleichterung, Freudentaumel, das Bier schwappt über ob der beglückenden Entdeckung eines weiteren Planlosen. Es wird feierlich auf Brüderschaft getrunken und gemeinsam fröhlich verdrängt: „Komm, für heude Aaabend is noch egaaal.“ „Na, dann Prost!“
Der Kater des nächsten Morgens bringt die Ernüchterung. Erste Versuche, die steile Wand des Abiloches zu erklimmen, scheitern jedoch an Sophies eigener Prophezeiung, eh nichts zu finden. Sie quält sich zur Infozentrale: „Ich möchte gern ins Ausland. Was gibt‘s da für Möglichkeiten?“ Fatale Frage, weil unkonkret. Mit einem Lastzug voller Broschüren wird sie heimgeschickt, wo sie an den abertausenden Möglichkeiten dieser Welt verzweifelt und natürlich keine entdeckt. Nach längerem Pseudo-Informieren greift sie auf das altbewährte Mittel des Schiebens zurück und verfrachtet den Info-Haufen in die Zimmerecke, von wo aus er Sophie spöttische Blicke zuwirft.
Zweiter Versuch: Die Internetsuchmaschinen. Aus dem Bauchgefühl heraus eingegebene Begriffe führen jedoch zu tollen Erfahrungsberichten von Miriam aus Oberammergau oder Homepages nach dem Motto: „Rufen Sie uns an und wir realisieren Ihre Pläne!“
Pläne?! Mensch muss jetzt ran. Bepackt mit dem Mut der Verzweiflung wird der Berufsberater angesteuert. „Was wollen Sie denn machen?“ „Deswegen bin ich doch hier! Das ist das Problem!“ Sophie wird handkantenschlagartig bewusst, dass ein Berufsberater kein Lebensplanungsarchitekt ist. Wenigstens wird sie mit allerlei ungeahnten Weisheiten entlassen: „Junges Fräulein, es lohnt sich doch sowieso nur ein Lehramtsstudium. Ihren Magister können Sie sich im besten Fall auf‘s Klo hängen.“ Na, Bravo. Wieder Verzweiflung, Tränen, zerfetzte Taschentücher. Doch, oh, Wunder ...!
Statt Ratlosigkeit leuchtet Wut im Emotionsregister auf. „Die haben sich doch alle gegen mich verschworen! Info-Haufen, Berufsberater, Donatella... Die wollen alle nicht, dass ich was finde!“ Genau, ganz einfach. Diese kleine Fehleinschätzung der Realität lässt Sophie die Flinte aus dem Korn holen. Sie erstellt Lebenslagepläne, grübelt und notiert Spezialgebiete, verschafft sich endlich Klarheit und entwirft ihren Schlachtplan. „Denen werd‘ ich‘s zeigen! Irgendwas machen ist immer noch besser als gar nichts tun!“ Eingehüllt von dieser neuen Energie wird Sophie kaum bemerken, wie sie dieser Beschluss langsam, aber ganz sicher aus dem Abiloch hieven wird.
Aletta Rochau
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen