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Prügel, Drogen und jede Menge Alkohol

Michael Stephens berichtet in „Brooklyns Totenbuch“ von den wahren Verbrechen am Rand der Gesellschaft

Es gibt sie ja wirklich, diese Männer. Nicht nur in New York, in jeder großen Stadt. Sie sitzen einem in der U-Bahn gegenüber, der konstante Alkoholkonsum hat die Äderchen auf ihren Nasen platzen lassen, und man weiß nicht so genau, ob man nun Mitleid mit ihnen haben soll oder ob sie einen nicht vielleicht ängstigen. Meistens steckt man die Nase tiefer in sein Buch und versucht, ihre Anwesenheit auszublenden. Doch sie sind geboren worden, sie haben Eltern, die ihnen einen Namen gegeben haben, und Geschwister, mit denen sie sich geprügelt haben. Irgendwo steht das Haus, in dem sie aufgewachsen sind und dass sie irgendwann verlassen haben, um nun in der U-Bahn zu sitzen und mit sich selbst zu reden.

„Brooklyns Totenbuch“ ist ein Roman über diese Männer. Über Leland Coole, den Kriegs- und Irrenhausveteranen, über Emmet Coole, den ältesten Crackhead von New York, über Terence Coole, den obdachlosen Spinner, über Brian Coole, den Feuerwehrmann, der bei einem Brand durch ein Dach brach und dabei schwere Verbrennungen erlitt. Es geht um diese Männer und um ihre Geschwister, 16 Cooles sind es insgesamt. Seit Jahren sind sie sich aus dem Weg gegangen, und nun treffen sie sich alle wieder, denn der Vater der ganzen Bande, Zollinspektor Jack Coole, ist gestorben, und die Geschwister halten an seinem Sarg die Totenwache.

Es ist die Geschichte einer langen Nacht. Niemand ist gerne gekommen. Jack Coole war ein gewalttätiger, versoffener Nichtsnutz, das Leben in seinem Haus die Hölle auf Erden. Es sind samt und sonders Überlebende, die da um den Sarg herumsitzen, und untereinander haben sie mindestens genauso viele offene Rechnungen wie mit ihrem Vater. Niemand ist gerne hier, jeder hat das Elternhaus bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verlassen, für keinen hat diese Flucht ins Glück geführt. Zu tief sind die Wunden, die die ständigen Quälereien, die Prügel, der Alkohol und die Drogen geschlagen haben.

Als „Brooklyns Totenbuch“ 1994 in den USA erschien, wurde es vor allem als Abgesang auf das Ideal der heilen Familie gelesen. Und tatsächlich: Wenn etwa Jonathan Franzen in seinen „Korrekturen“ die Familie als den Zusammenhang beschreibt, der einen aufnimmt, wenn einen sonst niemand mehr will, so sind die Cooles das Gegenbeispiel. Hier ist die Familie der Ort, an den man auf gar keinen Fall zurückkehren will, auch wenn man noch so tief gefallen ist.

Außerdem erzählt Franzen eine Mittelstandsgeschichte, und „Brooklyns Totenbuch“ handelt von der Rückkehr ins Ghetto. East New York, der Stadtteil von Brooklyn, wo die Leiche aufgebahrt ist, ist eine Gegend, die niemand betritt, der es irgendwie vermeiden kann, und die man eigentlich am besten aus HipHop-Platten kennt. Es ist einer der Orte, über den Dinge gerappt werden, die vom Geldzählen handeln, von der Benutzung großkalibriger Faustfeuerwaffen und die mit dem Kaufen und Verkaufen von Drogen zu tun haben.

All dies sind Themen, die Autor Michael Stephens auch anspielt, eigentlich geht es ihm aber um eine andere Ghetto-Erzählung. Ihm geht es um das Ghetto als den Ort, den man zwar verlassen kann, der einen aber nie verlässt, weil er seinen Kindern das Gefühl eines grundlegenden Scheiterns, eines tief empfundenen Immer-und-überall-am-falschen-Ort-Seins in die Seele stempelt.

Doch so überzeugend sich dieses Gefühl auf den Leser überträgt – man atmet tatsächlich tief durch, wenn man das Buch zuklappt, schließlich hat man gerade Terence Coole dabei begleitet, wie er besoffen, ohne Geld und ohne Schlafplatz in die Nacht stolpert, dennoch froh, dem Bannkreis seiner Familie entronnen zu sein –: Es ist nicht nur ein Leiden an dem, was einem da erzählt worden ist. Es ist auch ein Leiden daran, wie es erzählt wird. Es sind einfach zu viele Geschwister, zu viele Geschichten, oft nur angedeutet, um dann unerzählt zu bleiben und von anderen überlagert zu werden. Als hätte Stephens diesen Mangel gespürt, stellt er einige Geschwisterkinder in den Mittelpunkt, was das Ganze aber nur noch schlimmer macht, weil so das Gleichgewicht des Familienschreckens ins Wanken gerät.

Das ist schade, denn lauscht man diesen Stimmen, wie sie sich am offenen Sarg beschimpfen und sich gegenseitig Vorwürfe machen, wie dort gesoffen, gekokst und gebetet wird – man kommt ihnen sehr nahe. Näher wahrscheinlich, als es ihnen selbst recht wäre. TOBIAS RAPP

Michael Stephens: „Brooklyns Totenbuch“. Achilla Presse, Hamburg 2002, 282 S., 24,54 €

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