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Wortlos ortlos

Poesie, Trauer, Wut und Witz: Urs Dietrich hat die politische und gesellschaftliche Ortlosigkeit in einen furiosen Körperbilderbogen übersetzt

Ein wirbelndes Durcheinander angestrengtester Positionssuche

Knöpfe und Haarspangen, wilde Strichspuren auf dem Linoleumboden zeugen davon, dass schwer was los war in der vergangenen Stunde im Concordia: Premiere des neuen Tanzstückes von Urs Dietrich mit dem Titel „Ort.Los“.

Kaum ein Thema kann aktueller sein: in einer Zeit, in der Millionen auf der Flucht sind – politisch gesehen – und Millionen ihre Arbeit ohne Ort über den Computer erledigen – technisch gesehen. Es wäre nicht Urs Dietrich, würde er das nur beklagen. Nein, da gibt es so viel, was Lust, Neugier und Spaß macht, denn dieser Zustand beinhaltet auch die Chance zum Neuen. „Ich reise gern, ich liebe diese Bewegung, diese Rucksäcke und diese Laptops“, hatte Urs Dietrich in einem Interview gesagt.

Schon der Raum markiert: kein Ort. Lediglich eine Stufe, graues Linoleum und Wandspiegel an beiden Längsseiten heben jede Begrenzung auf. Darin tobt sich das virtuose zwölfköpfige Ensemble aus. Zunächst allerdings steht es – minutenlang – bis eine Tänzerin die Choreographie mit dem kleinen Finger der linken Hand beginnt: Wenn man es bemerkt, hat sie schon längst damit begonnen. Solcherart Bewegungen aus dem Nichts gibt es häufiger. Die erste halbe Stunde erlaubt sich Dietrich Offenheit, lange weiß man nicht, wo es lang geht. Auch das: Ortlosigkeit.

Dann, schlagartig und mit zum Teil hoher Dramatik: eine furiose Sprachsteigerung zwölf verschiedener Sprachen bis zum Schrei, ein wirbelndes Durcheinander angestrengtester Positionssuche, ein Versuch der Ortung in der Partnerschaft, die kettenreaktionsartig – und zum Teil ziemlich komisch – wieder zerstört wird.

Es gibt kein anderes Mittel, das diese Geschichte, wenn’s denn eine ist, hält. Kein Bühnenbild, keine Kostüme, keine Musik, nur die Körper und damit die Seelen selbst sprechen. Und wie! Es versteht sich im Theater von Urs Dietrich von selbst, wie viel individuelle Differenzierung von jedem und jeder Einzelnen da eingebracht wird. So bewegt sich ein Körperbilderbogen voller Trauer, voller Wut, voller Witz, aber immer auch und nicht zu wenig, voller zarter Poesie. Die Schuhe, die am Ende übrig bleiben: Einer steigt auch aus seinen Schuhen aus. Maßgeblichen Anteil an diesem Eindruck hat die sparsamst und vorsichtig verwendete Musik unterschiedlichster Provenienz. Niemals verdoppelt sie ein Bild tautologisch, niemals konkurriert sie mit dem Bild, sondern schleicht sich sozusagen am kaum noch hörbaren Rand entlang: Was die Möglichkeit zu unendlich vielen, wiederum anderen Assoziationen gibt. Lang anhaltender Beifall.

Ute Schalz-Laurenze

Die nächsten Termine: 6., 7., 12., 14., 15., 19., 20., 27. und 28. Dezember, jeweils 20 Uhr im Concordia (Schwachhauser Heer- / Ecke Herderstr.)

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