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„Meine Ohnmacht“

Ivan Illich, „gemeiner“ Denker und Kritiker der gedankenlosen Selbstverständlichkeiten der Moderne, wurde – der Medizin zum Trotz – 76 Jahre alt. Seit 1992 lebte der Weltbürger in Bremen

„Verzicht ist möglich. Verzicht der bewusst, kritisch, diszipliniert eingeübt wird“

Vermutlich ist er der weltweit bekannteste Bremer: Der Privatgelehrte Ivan Illich ist am Montag im Alter von 76 Jahren gestorben. So weit hätte es eigentlich gar nicht kommen dürfen: Die Ärzte hatten ihm schon 1983 gerade noch fünf Jahre gegeben – und das nur unter der Bedingung, dass er sich ihrer radikalen Krebs-Therapie unterwerfen würde. Das hat er nicht getan.

Denn Ivan Illich hatte schon 1976 in seinem Buch „Nemesis der Medizin“ klargestellt, dass Medizin für ihn nur eine der Institutionen ist, die den Menschen von der Technik abhängig machen. Seitdem nahm Illich Opium, wohl dosiert, und er hatte auch keine Scheu, dies öffentlich zu sagen. Illich, ein Weltbürger, der in Florenz und Rom studierte, zum Priester geweiht worden war, wurde nach einem Konflikt mit Rom in Mexiko „laisiert“, ist aber Mitglied der „einen, heiligen, katholischen Kirche“ geblieben.

Nach Professuren in Ponte (Puerto Rico), Princeton, Pennsylvania, Kassel und Marburg hielt er in Bremen Universität bis zuletzt Gastvorlesungen über „Askese“. Für den kommenden Januar hatte er sich ein Blockseminar über Bildungspolitik vorgenommen. Über die Institution Schule hatte Illich bereits 1970 publiziert.

Seit 1992 hatte der 1926 in Wien geborene „gemeine“ Denker seinen Lebensmittelpunkt in Bremen. Hier verfolgte er auch eine “gemeine“ Idee: Mitten auf dem Rembertikreisel, dem von täglich 40.000 Blechkarossen umkreisten Reservat des Wildwuchses, wollte Illich eine “Freie Universität Remberti“ entstehen lassen. Aus den umliegenden Straßen kamen damals Jung und Alt, um auf Wolldecken und Klappstühlen über die Symbolhaftigkeit dieser Stadtplanungsruine und andere Modernisierungs-Projekte zu reden. Für Illich war das wilde Stück Niemandsland eine intellektuelle Herausforderung. Seine Philosophie: „Zementmauern kann man nur mit Wurzeln sprengen“.

In den 60er Jahren hatte der Fortschrittswahn am Kreisel ein Wohnquartier niedergerissen. Illich hätte hier gern ein „Sindbad“, ein Cafe für Geschichtenerzähler, gehabt. “Gemein“ ist für Illich das, was im ursprünglichen Wortsinn „allgemein“ ist. Dass die Fortschrittsmacher der Moderne das „Gemeine“ als niedrig empfanden und diese Sicht auch sprachpolitisch durchsetzen konnten, verwies für Illich auch darauf, dass der Machtapparat sich gerne der Sprache bedient: „In den prä-industriellen Gesellschaften konnte die politische Macht nur einen lebens-unnötigen Überschuss an Lebenskraft kontrollieren“, schrieb Illich in seinem Buch „Selbstbegrenzung“ (Tools of Conviviality). Die Enteignung ursprünglicher „gemeiner“ Fähigkeiten zum Nutzen lukrativer mittelständischer Berufe führe dazu, dass der fortgeschrittene Mensch abhängig wird von deren Prothesen – das ist der rote Faden seiner intelligenten Polemik gegen die gedankenlosen „Selbstverständlichkeiten der Moderne“: Schule, Fortschritt, Expertensysteme ...

Die Entwicklungshilfe („Wie im Westen, so auf Erden“), die er vor allem in Lateinamerika hautnah studierte, ist für Illich nur der erfolgreiche Versuch, „aus einfachen Leuten Bedürftige“ zu machen: „Im Namen der Bedürfnisse konnten die Entwicklungsmanager ganze Kulturen zerstören.“

Als der weltweit renommierte Philosoph zum 20-jährigen Bestehen der Bremer Universität zur Festrede geladen wurde, brüskierte er die Drittmittel-Jäger mit einem spannenden Vortrag: Wenn Wissenschaft nur das „Austüfteln von Machbarem“ sei, käuflich wie die „Forschung des Bezahlbaren“, dann habe sie den Anspruch auf Ansehen und Vertrauen verloren, hielt Illich der Festgemeinde in der Oberen Rathaushalle vor. Er empfahl der Universität „Bildung“ und eben „Askese“ als den Weg, die eigene Sinnlichkeit und Vorstellungskraft zu verfeinern. Wie man ahnt – vergeblich.

Genauso vergeblich hatte Illich schon 1991 mit Henning Scherf in der Rathaushalle über die Institutionalisierung von Bildung geredet. “So wenig Schule wie möglich“, ist Illichs These („Entschulung der Gesellschaft“, 1972), denn für ihn werden in der Schule die Schüler nur geschult, Verfahren und Inhalte miteinander zu verwechseln. In der Konfrontation mit Illich verteidigte der damalige Bildungssenator Scherf – so schrieb die taz – „die (sozialdemokratische) Schul-Welt als Wille und Vorstellung, eine vernagelte Welt, abgedichtet mit den Scheuklappen des Quasi-Nachdenkens und des Quasi-Dialogs.“

Kritik an den Gedankenlosigkeiten der Moderne ist nicht erfolgreich, im Gegenteil: Sie reproduziert immer wieder eine Lage der Ohnmacht. Illich wusste das. “Es gibt nur eine Antwort auf das moderne Medizinsystem: Nein, danke!“, hatte Illich 1990 im taz-Interview erklärt. „Ich anerkenne meine Ohnmacht, erlebe sie tief. Aber Verzicht ist möglich. Verzicht, der bewusst, kritisch, diszipliniert eingeübt wird, und für den es einmal einen Namen gab: Askese.“ Damit meinte er nicht das „Nein danke zu Wein, Weib, Gesang und Wohlgerüchen“ , sondern „ein ‚Danke, nein‘ zu den Selbstverständlichkeiten, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist.“

Klaus Wolschner

Siehe auch Seite 6

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