Diaspora für Anfänger

Ein letztes Mal Frankfurter TAT: Ute Rauwald inszeniert den „Kaufmann von Venedig“ als spielerisches Gespräch

Schon die Bühne: alles offen, zerfasert, ungerahmt. Letztlich gar keine Bühne, unter dem hohen Dach des ehemaligen Straßenbahndepots, keine Erhöhung, keine Abgrenzung, kein Vorhang. Franst aus, nach beiden Seiten. Rechts ein Flügel, links eine Art Teich, ein Sprungbrett drüber, irgendwo ein Sofa, ein Trampolin, ein paar Gartenstühle. Hingewürfelt, abgestellt. Auch die Spieler lose im Raum verteilt, wie schon ihre Namen auf den Ankündigungsplakaten in den U-Bahn-Stationen: keine Zuordnung. Darsteller, Regisseurin, Dichter, Dramaturg ohne Hierarchie. Alles offen, völlig offen. Hier soll keine neue Form gefunden werden für den alten Klassiker, Ute Rauwald will ihren „Kaufmann von Venedig“ am Frankfurter Theater am Turm (TAT) als Prozess verstanden wissen. Als spielerisches Gespräch.

Doch es bleibt ein seichtes Selbstgespräch mit ein paar eingeprengten Shakespeare-Dialogen, um knappst die Handlung noch zu integrieren, dem Ganzen einen roten Faden zu verpassen. Der alte „Kaufmann“ ist nicht wichtig, wichtig sind die Menschen auf der Bühne: Das Reale will Rauwald ins Theater ziehen, will wohl so etwas wie die biografische Expertenschaft nutzen, mit der experimentelle Theatermacher wie Stefan Kaegi derzeit gern spielen. Und braucht die Szenen des Stückes lediglich als Assoziations- und Improvisationsmaterial, als Grundlage zu einem Gespräch über Identität, Juden- und Christentum, Fremdheit und Heimat, Geschäftmacherei und Existenzverluste.

Mit solchen Gesprächen also beginnt der Abend: Da sitzt der Jude Shylock mit seiner Tochter auf zwei Gartenstühlen, und sie räsoniert darüber, wie ihr Leben geworden wäre, hätte sie es in Israel gelebt. Und weiter vorn baut ein anderes Mädchen seine erste Laubhütte für Sukkot auf der Suche nach der Tradition. Alles Klischees, alles unzählige Male gesehen und gehört, mag es auch noch so wahr sein, Rauwald hinterfragt nichts, will nichts wirklich wissen, lässt biografische Zerrissenheit, lässt Leid nur als beiseite genuschelte Cocktailplauderei zu: Diaspora für Anfänger.

Was im Arbeitsprozess produktiv, vielleicht sogar intensiv gewesen sein mag, findet als Aufführung keine Form. Es gibt viele Fragen an den Text, aber keine davon ist substanziell, mögen manche auch so tun. Dabei ist nicht das Problem, dass Ute Rauwald sich für den Klassiker nicht interessiert, dass sie seine Sprache nicht reizt, nicht seine Dramaturgie, seine Doppelbödigkeit oder auch nur sein Plot. Dass sie ihn nur als Assoziationsfläche nimmt, als Trampolin. Denn schon in vergangenen Inszenierungen, vor allem in ihrer sehr freien Adaption von „Bernada Albas Haus“, durch die sie zu Recht bekannt wurde, interessiert sie sich ausschließlich für das Gegenwärtige, für das Menschliche, zuweilen Private. Ihre „Sechs hässlichen Töchter“ als Girlietruppe mit alltäglichen Ängsten und Hoffnungen waren gerade deshalb so präsent, so anschaulich und liebenswert.

Nichts von alledem beim „Kaufmann von Venedig“. Kein Zugriff, kein Mut, kein Grund. Die Truppe, die sie zusammengestellt hat, von einigen Schauspielern wie Sylvia und Dagmar Schwarz oder Bernd Grawert (als Antonio) über den Forsythe-Tänzer Talal Al-Muhanna bis hin zu Ilja Richter verspricht mehr. Die Motivation für diese Konstellation bleibt freilich ein Geheimnis.

Dabei schafft es vor allem Ilja Richter, auch wenn er das Image des Schwiegermutterschwarms der Siebzigerjahre nicht mehr loswird, seiner Figur eine eigene Präsenz zu geben. Wenn er aus dem diffusen Raum der Privatheit in das eng abgesteckte Planquadrat tritt, in das an diesem Abend die eigentliche Shakespeare-Handlung gesperrt ist, dann erfährt man zwar nichts über den Shylock, aber etwas über seine Situation. Der voyeuristische Blick auf den Autor und Schauspieler, der in letzter Zeit immer wieder seine jüdischen Wurzeln thematisiert hat, ist gewollt. Aber gleich verliert sich wieder alles im Diffusen. Der Schluss kommt vom Videoband, an diesem – trotz seiner Kürze schnell durchschaubaren und langweiligen Abend – merkwürdig eingeklemmt zwischen behauptetem Experiment und Konvention des Stadttheaters.

Das wiederum war manches Mal so am Frankfurter TAT, das zum Jahresende von der Stadt weggespart wird. An seinem Ende nun keine Inszenierung mehr von Tom Kühnel oder Robert Schuster und dem eigenen Ensemble. Als wären alle schon gegangen und hätten die Bude noch mal kurz verliehen. Bei einem normalen Gast allerdings würde man es mögen, wenn er keine Spuren hinterlässt.

FLORIAN MALZACHER

Noch am 7., 8., 11.–13., 15., 18.–22. 12.