: Richard, der Magier und Dandy
Die Pille, die wir nicht genommen haben, wirkt schöner, unkalkulierter, bombastischer als die Glücksgefühle aus Chemie: Richard Ashcroft hat ein neues Album aufgenommen. In einer kalten Winternacht stellte er es am Freitag in der Berliner Columbiahalle vor. Er hat dann unerhörte Wärme mitgebracht
von HENNING KOBER
Weiße Wolken steigen aus den Mündern der Menge, die vor der Columbiahalle wartet. Kryptische Wolken wie Bleiskulpturen an Silvester. Es ist kalt in dieser Berliner Freitagnacht, „Richard Ashcroft“, steht in roten Lettern über dem Eingang. Das Rot leuchtet wie ein Stern in der Winternacht. Vor wenigen Wochen hat der Ex-„The Verve“-Frontmann sein zweites Soloalbum „Human Conditions“ veröffentlicht.
Es hat schlechte Kritiken in der britischen Presse bekommen. Zu erwachsen, zu psychedelisch, zu wenig Drogen, kurz: zu wenig Spaß, lautete das Urteil über das Werk eines Mannes, der in den Neunzigern den Mr. Wild des britischen Rockstars personifizierte: nachts auf der Themse Kanu fahren, mit dem Luftgewehr auf Freunde schießen, weißes Pulver, bis sich die Nasenscheidewände auflösen und dabei ausgesprochen gut aussehen. All das war Richard, Richi Ashcroft. War.
Inzwischen ist dieser Mann verheiratet, Vater und lebt nicht mehr im schnellen Dschungel von London, sondern in einem Weinschloss aus dem 17. Jahrhundert im einsamen Gloucestershire. Neben seinem Anwesen, in einer umgebauten Scheune, das Studio, in dem er alleine mit seiner Gitarre an neuen Songs arbeitet, die dann „Paradise“, „Science of Silence“ oder „Nature Is The Law“ heißen. Es geht um saubere Flüsse, prächtig gewachsene Früchte und das sichere Leben. Warm und komfortabel, nicht gerade das, wonach wir suchen.
Und jetzt auch noch das: Im dunklen Rund der Columbiahalle haben sich Träger von Versace-Mänteln, Hermes-Hemden und Dolce-&-Gabbana-Parkas eingefunden. Durchschnittsalter über 30. Gelangweilt und andachtsvoll stehen sie herum, es gibt Platz genug, obwohl nicht mal die Empore geöffnet ist. Getrunken wird kaum, von Drogen weit und breit keine Spur, auf den Toiletten ist fast nichts los. Ein blondes Mädchen gähnt ununterbrochen, wie schrecklich und ansteckend.
Dann auf einmal Sound. Laut, die ersten Klänge zu „Check The Meaning“, auch das erste Lied auf dem Album, die Bühne bleibt noch dunkel. „When I’m low, and I’m weak, and I’m lost, I don’t know who I can trust, Paranoia“, ja, da ist sie, die Stimme. Schöner, rauer, englischer, britischer kann eine Stimme das Wort „Paranoia“ nicht singen. Ein Dom der Lichter, achtfach gestreut, auf den Boden zielend, scheint und wirft Schatten auf Richard Ashcroft. Schlaksig, hohlwangig, schüchtern steht er da, „good night, welcome“. Ein Junge ruft etwas. Richard beugt sich vor, versteht nicht, die Kluft zwischen Bühne und Publikum scheint riesig, dann singt er einfach.
Song für Song spielt der Sänger vor einem Bühnenbild voller kleiner heller Sternenlichter seine Lieder, noch unsicher, ob seine Botschaft bei der abwartenden Menge vor der Bühne auch ankommt. Nach fast jeder Nummer reicht ihm ein Mitglied des siebenköpfigen Orchesters eine neue Gitarre. Braver Applause, Pausen, Sekunden zu lang, entstehen. Es ist die Stunde der Nerd-Jungs, die einsam versunken der Musik lauschen, den Blick fixiert auf ihren Helden, der hauptsächlich Titel seiner beiden Soloalben spielt. Aber es plätschert nur, wir warten, jetzt muss doch gleich etwas passieren, ein Bang, Boom, laut, massiv, irgendwas.
Es hat schon lange angefangen, wir haben es nur nicht gemerkt. Wir wussten nicht, dass wir eine Pille genommen haben. Auf einmal bewegen sich die Menschen vorne, rechts, links, die roten und grünen Lichter tanzen über sie hinweg, Wärme kriecht aus unseren Mägen, Richard tanzt auf der Bühne, er kreist vor seinem Mikro, die Arme leicht angehoben, seine dünne Jeansjacke fliegt ein wenig vom Körper. Es wirkt, wir kommen ganz wunderbar drauf.
Die Pille, die wir nicht genommen haben, wirkt, schöner, unkalkulierter, bombastischer als die Glücksgefühle aus Chemie. Hier ist die Magie des Richard Ashcroft, willkommen. Der Dandy in neu erblühter Schönheit steht vor uns. Jetzt ist alles wie bei jeder schönen Droge: never stop, never ending. Auch Richard macht, so lang er kann, spielt „A Song For The Lovers“ und „Bitter Sweet Symphony“ als Zugabe. Glück strahlt auf seinem Gesicht und den Gesichtern vor ihm. Auf dem Nachhauseweg hören wir zweieinhalbmal „Human Conditons“ und merken noch etwas. Die Platte wirkt wie ihr Erschaffer, sie macht süchtig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen