: Unter Orks
Lieber Cola als Kaffee: Die Schauburg zeigte gestern als einziges Kino in Deutschland ein Preview von „Der Herr der Ringe II“ um 4 Uhr nachts
Das zentrale Nervensystem tickt aus: Es ist 4 Uhr früh. Für diese Zeit hatte es ursprünglichTiefschlafphase 2 mit vehementer Traumarbeit programmiert. Stattdessen Kino bombastico: „Der Herr der Ringe II“ in der Schauburg.
Das Sensorium reagiert doppeldeutig. In die geschärften Sinneswahrnehmung des angeschlagenen Tiers mischen sich schwiemelige Visionen: Ameisenhaft wimmelnde Orkheere wecken tief ins Unterbewusstsein gedrungene Buñuel-Bilder. Ewig unklar bleibt, ob gerade Aragorn, Arathorns Sohn intensiv an Cate Blanchett denkt, oder das Es. Und das Brennen der Augen stellt eine Körperlichkeit her, die dem Filmischem sonst abgeht. Wäre 4 Uhr früh also die beste Zeit für Kintopp?
Gängige Praxis jedenfallsnicht. Genau genommen ist die Bremer Schauburg sogar das einzige Kino bundesweit, das sich gestern für diese extravagante Ansetzung entschied. Man habe schon vergangenes Jahr keine schlechten Erfahrungen damit gemacht, so Schauburg-Leiter Robert Erdmann. Als „Der Herr der Ringe – Die Gefährten“ in die Lichtspielhäuser gekommen sei, „wollten wir das mal probieren.“
Auf Anhieb erreichte die Schauburg damals 150 Personen. Zur gestrigen 4-Uhr-Vorstellung des zweiten Epos-Teils kamen nur unwesentliche 20 weniger. Sollten das alles nur die Zukurzgekommenen der Mitternachtsaufführung sein, unfähig, dem Drang zu widerstehen, trotz dieser Misslichkeit als erste mitzureden? Gäbe es vielleicht eine große, aber in Bremens öffentlichem Leben hoffnungslos unterrepräsentierte Randgruppenkoalition der Extremnachtschwärmer, Perversfrühaufsteher und Völligschlaflosen‚ die sich ‚Prima‘, gedacht hätte, ‚prima, endlich einmal ein Angebot extra für uns‘? Oder wären‘s gar die lichtscheuen Anhänger der Mächte der Finsternis gewesen?
Aber nein, das ist absurd, denn Bremen ist – ogottogott, ein Sparpotenzial !– des Nachts fast heller als am Tage, selbst noch um 3.15 Uhr. Drei Stunden vorher wird‘s nicht groß anders ausgesehen haben; und auch später, um 7.15 Uhr, nach der Vorführung, dasselbe Bild: Straßenbeleuchtung sogar im stillen, vom Streudienst ausgesparten Wohnviertel, gar nicht zu erwähnen die gelbdämmernde, mattfeuchte Hauptverkehrsroute. 3.31 Uhr, die Tram ist ultrapünktlich: ein weißlich glimmendes Elbenschwert durchs Nächtliche.
In die Nase sticht – obwohl im Viertel gewohnt – das Fehlen des Popcorns. Dreistundenfilme mit Megaspecialeffekts wären im Normalfall prädestiniert für die Riesentüte, stattdessen aber werden nur vereinzelt weitgehend geruchsneutrale Maischips verknuspert, eher ohne Soße, und auf der Getränkehitliste stehen koffeinhaltige Limonaden ganz oben – höher im Kurs noch als Kaffee, vielleicht wegen des vielen Zuckers, der erst mal verbrannt sein will: Die Lider mögen flirren, wie sie wollen, der Schlaf hat nur minutenweise eine Chance.
Auch fehlen jene albernen Verkleidungen (es sei denn, unter die Zuschauer hätten sich, aber das wäre, siehe oben, absurd, perfekt als Bremer maskierte Orks respektive Uruk-hai (diese Namen!) gemischt), die die üblichen Mitternachtspreviews eventisieren: Die Cinemaxen, mit Kopien in Hülle und Fülle ausgestattet, können damit fast jeden Saal bespielen.
Die Schauburg aber, mit nur einem Film-Exemplar gesegnet, hat aus dieser Not, scheint‘s, eine Tugend gemacht: Sie gibt mit ihrer 4-Uhr-Vorstellung den strenggläubig-puristischen Cineasten ein Forum ohne störendes Beiwerk. Hier sitzen die, denen es ernst ist, mit dem Film. Oder doch nicht? Manche nutzen die raren stillen Sequenzen des Streifens, um in Ruhe auf kleiner Feuerzeugflamme ihren Joint zu formen. Bei anderen verursacht der Schlafentzug Logorrhöe: Drei Stunden am Stück mit Grunzern gemischtes Plaudern, unterbrochen nur von der Cola-bedingten Pipi–Pause – das muss pathologisch sein.
Und dann beginnt er, der Tag mit wattigen Beinen, mentale Abwesenheit, wuchernde, assoziative Sätze mit erschreckenden Orthografiemängeln, und auch der Streit mit den Kollegen aus nichtigen Anlässen – Tschuldigung, tut mir ehrlich und ganz von Herzen leid: Wär wohl besser gewesen, sich nach Hause zu verkriechen, Decke über die Ohren, den Schlaf nachholen...
Mitnichten. Zwar würden das Schichtarbeiter so machen, klärt Jürgen Hoppe vom Schlaflabor Hamburg-Wandsbeck auf. „Aber die stören dadurch auch ständig ihren zirkadianen Rhythmus.“ Zirkadian?! „Der Körper nähert seine Prozesse an den normalen Tageslauf an.“ Medizinisch klüger sei‘s, durchzuhalten und erst „die nächste Nacht durchzuschlafen – dadurch erhöht sich der Tiefschlafanteil“.
Benno Schirrmeister
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